Fischers Meinung

Trichotillomanie!

Mario Fischer
Mario Fischer

Mario Fischer ist Herausgeber und Chefredakteur der Website Boosting und seit der ersten Stunde des Webs von Optimierungsmöglichkeiten fasziniert. Er berät namhafte Unternehmen aller Größen und Branchen und lehrt im neu gegründeten Studiengang E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.

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Trichotillomanie nennt man den zwanghaften Drang, sich die eigenen Haare ausreißen zu wollen bzw. dies auch zu tun. Ich glaube, diese Krankheit bekomme ich gerade. Beim Surfen, Einkaufen und Durchs-Web-Flanieren  mit dem Tablet befällt sie mich schon nach wenigen Minuten. Und zwar immer dann, wenn in der Adresszeile vom verantwortlichen, aber untalentierten Entwickler zwangsweise statt des „www.“ plötzlich „m.“ für die mobile Version einer Website oder eines Shops vorgesehen wurde. Da sitzt man mit einem Monstertablet mit einer Monsterauflösung auf der Couch und bekommt eine Webseite mit World-Trade-Center-großen Buttons, die man mit dem ganzen Arm statt mit dem Finger bedienen könnte. Das Trichotillomanie auslösende Moment ist aber, wenn die Website vom Content her so kastriert wurde, dass man einfach nichts mehr findet. Man fängt an, den Webentwickler zu hassen – wenn man doch nur wüsste, wo sein Auto steht!

Tabletbenutzer kennen dieses hilflose Gefühl, das man bei der Vergewaltigung durch eine mobile Version einer Website bekommt. Arggghhh … Wo ist die gewohnte Navigation? Wo kann ich mich einloggen? Alles, aber auch alles ist anders als noch vorhin vom Bürodesktop aus. Solche Funktionszwerge mögen für die Fuddeldisplays von Smartphones ja noch tragbar sein, aber für Tablets taugen sie – nichts.

Was ist eigentlich überhaupt „mobil“?

Das kann mir irgendwie niemand richtig beantworten. Keine Studie, die ohne dieses Wort auskommt, und keine, die erklärt, was die Ersteller unter diesem Wort genau verstehen bzw. bei Befragungen darunter verstanden haben. Ist es ein beweglicher Computer, der „mobil“ ist? Dann wäre auch ein Notebook mobil. Logisch, dafür hat man es ja. Fragt man, erhält man meist ein Nein, Notebooks meine man damit natürlich nicht. Die zählen eher zu den Desktops. Schon diese Einordnung sollte am Verstand derjenigen zweifeln lassen, die Umsätze, Gewinne, Geräte, User und anderes in „Mobil geht steil nach oben“-Grafiken zwingen. O. k, dann ist ein mobiler Computer (vulgo Notebook oder Laptop) also kein mobiles Gerät. Tablets? Sind die mobil? Ja klar, irgendwie schon – da hängt ja kein Kabel dran. Und dass sie bei vielen Webentwicklern eindeutig „mobil“ sind, kann man an der oben erwähnten Zwangsumleitung dieser Geräte auf die vasektomierte Version einer Website erkennen. Aber werden Tablets wirklich schon so mobil eingesetzt? In Zügen, U-Bahnen, beim Spazierengehen im Park – ihre Smartphones haben dort alle dabei und es lässt sich beobachten, dass mehr Blicke auf das Display als auf die Straße gerichtet sind. Aber mit einem Tablet vor der Nase sieht man Menschen eher selten rumlaufen. Tablets benutzt man wohl eher im Büro oder eben auch abends gemütlich auf der Couch, wenn man durch einen Impuls in der Farbfernsehwerbung neugierig gemacht wurde oder auch mal schnell eine Zugverbindung checken möchte. Wenn dem so ist, wäre die Bezeichnung „mobil“ für Tablets vielleicht sogar weniger zutreffend als für Notebooks, die man ja deswegen besitzt, um unterwegs Rechenleistung und auch einen ständigen Internetzugang zur Verfügung zu haben.

„Smartphone, Tablet und Co. treiben die Online-Nutzung unterwegs weiter an …“, und: „… Mobile Endgeräte treiben den Internetkonsum voran. Die Unterwegs-Nutzung steigt binnen eines Jahres deutlich von 23 Prozent (2012) auf 41 Prozent (2013).“ So schrieb die ARD letztes Jahr auf ihrer Website (http://einfach.st/ard1). Eine Unterscheidung von Smartphones und Tablets? Fehlanzeige. Obwohl die Nutzung der beiden Gerätetypen durchaus unterschiedlich ist und „mobil“ wohl keine wirklich treffende Begriffsklammer ist.

Ist mit „mobil“ nur das Smartphone gemeint?

Ist es wirklich so einfach? Was haben Desktops, normale Note- und auch Netbooks und Tablets gemeinsam? Man kann damit vernünftig surfen bzw. online einkaufen. Beim Einkaufen muss man in der Regel sehr viel stärker mit einer Seite interagieren (suchen, filtern, vor- und zurückblättern, zum Teil auch drucken und vor allem vergleichsweise viele Daten eingeben) als bei einer reinen Informationssuche. Mobile Commerce mit kleinen Smartphone-Displays und den noch kleineren Tastaturimitaten macht also in der Regel nur wenig Spaß. Daher leiten wohl immer mehr Unternehmen „mobile“ Nutzer auf einen gesonderten Webauftritt um, der auf die Besonderheiten der kleinen Displays angepasst ist.

Du bist „mobil“ – und jetzt Ruhe!

Greift man mit einem Tablet auf solche Sites zu, bekommt man dann nicht selten das gleiche abgespeckte Design auf den durchaus mittlerweile zwölf Zoll großen, hochauflösenden Bildschirm. Da füllen dann wenige Zeilen oder ein ganzes Bild den Monitor. Aufmerksame Surfer können an der Änderung der URL erkennen, dass diese mobile Version in der Regel in einer gesonderten Subdomain läuft. Möchte man das vom Desktop her gewohnte Design haben oder einen schnellen Zugriff auf die gewohnten Funktionen und klickt sich in die Webadresse, um ein www. über die Subdomain zu tippen – dann erlebt man leider recht oft die geplante Entmündigung durch den bzw. die Webverantwortlichen. Man wird sofort wieder auf die mobile Sparversion umgeleitet. Nix da – du bist „mobil“, also nutze auch gefälligst das, was wir EXTRA dafür entwickelt haben. Gerade bei Sites, die man oft per Desktop, Pardon, „stationär“ nutzt, fühlt man sich irgendwie hilflos. Nichts ist da, wo es sonst ist. Alles ist ausgelegt auf ein 4 x 5 Briefmarken großes Display. Wie groß das aktuell genutzte tatsächlich ist, scheint niemanden wirklich zu interessieren. 

Was will ein Besucher als Erstes sehen, wenn er eine mobile Version einer Website besucht? Den Personalbericht vom letzten Jahr (Deutsche Bank, Abbildung 4) oder zwei übereinandergelegte Werbelayer (Lufthansa, Abbildung 5)?

Unabhängig davon, ob solche Inhalte auf Smartphones interessanter erscheinen als auf Tablets – gebt uns Suchenden die Kontrolle zurück! Wenn wir die normale Webseitendarstellung aktiv haben möchten, warum werden wir bevormundet? Und wenn schon ein Erzwingungsbesuch, dann bitte sehr mit einer sauberen Abfrage, welcher Client da wirklich daherkommt und was er darzustellen in der Lage ist. Wer hier schlampt, verliert wohl zu Recht ansonsten motivierte Besucher.

Responsive Design als Problemlösung?

Derzeit in aller Munde ist als langfristige Lösung „Responsive Design“. Man programmiert nur eine einzige Seite, gibt ihr alle notwendigen Informationen zur Darstellung mit und der Clientbrowser stellt die Seite dann automatisch richtig dar. Das hat den großen Vorteil, dass alle Elemente einer Seite in allen Auflösungen vorhanden sind und sich quasi fließend der aktuellen Größe anpassen.

Diese Art der Darstellung ist einer gesonderten Version für den mobilen Zugriff sicherlich vorzuziehen. Wer glaubt, eine Website müsse wie eine App aussehen und funktionieren, nur weil vermeintlich ein Smartphone am anderen Ende der Leitung ist, verkennt möglicherweise, dass man damit den Besuchern Gewohntes entzieht. Das ist unter Gesichtspunkten der Usability meist keine gute Idee. Wir Menschen sind sprichwörtliche Gewohnheitstiere. Wir fühlen uns dann wohl, wenn alles an dem Platz ist, wo wir es gewohnt sind. Der Schlüsselbund liegt am besten da, wo man ihn am Abend vorher hingelegt hat. Hat ihn jemand weggenommen und woanders hingelegt, müssen wir zu suchen anfangen. Das ist im besten Fall ärgerlich, im schlimmsten Fall vergessen wir ihn und gehen ohne Schlüssel aus dem Haus – aber nicht wieder dorthin zurück. Wie auch, ohne Schlüssel.

Der Zugang zum Check des eigenen Punktekontos bei einer Fluglinie sollte daher am besten auch immer dort sein, wo er letztes Mal noch war. Nicht ohne Grund gehen Umsätze und Anfragen nach einem Redesign eines Shops oder einer Website spürbar zurück, wenn man eine nennenswerte Anzahl an Stammkunden hat: Die suchen nämlich dann oft verzweifelt den Button, der doch immer da oben rechts war, oder eine bestimmte Navigationskategorie, die plötzlich nicht mehr da ist. „Don´t make me think“ lautet Buchtitel und Credo von Steve Krug, einem der anerkanntesten Usability-Experten.

Der als Vorteil für Responsive Design angeführte Punkt, dass man eben kein starres, sondern ein „fließendes“ Layout hat, ist unter der Perspektive der Beibehaltung von Gewohntem sicher auch etwas differenzierter zu betrachten. Zumindest aber findet man alle Elemente immer auf allen Geräten und Auflösungen – wenn eben auch nicht immer am gleichen Platz. Gegenüber den mobilen Varianten einer Website ist das sicherlich allemal ein großer Vorteil.

Gebt uns die Kontrolle zurück!

Ob Responsive Design der Weisheit letzter Schluss ist? Wann wird es Alltag für uns sein, auf Webseiten über ins Auge eingespiegelte Bildschirme –wie z. B. bei Google Glass – zu sehen statt auf kleine Smartphone-Displays? Wird es, durch den Bedarfssog induziert, irgendwann einen (Schnittstellen-)Standard geben, der das Design einer Seite bereits auf dem Webserver noch vor der Auslieferung an den Browser vernünftig anpasst? Wie lange wird es wohl dauern, bis es die Krücke „Website“ zur Informationsvermittlung nicht mehr gibt und wir uns via natürliche Sprache von einem „Sprachserver“ die benötigten Informationen holen? Zukunftsmusik? Ja, ganz sicher. Und letztlich wäre es mir auch egal, was davon wann kommt und ob. Das Einzige, was ich will, ist, dass die Webverantwortlichen von „Mobile Sites“ endlich ihren Job machen und mich mit ihren sicher gut gemeinten Zwangsumleitungen in Ruhe lassen. Gebt uns die Kontrolle zurück! Denn dass Ihr für jede und alle Situationen besser als wir selbst entscheiden könnt, was wir brauchen, ist sicher eine Illusion. An einer derartigen Selbstüberschätzung kann man daher kein gutes Haar lassen. Wie auch, wenn man sich beim Surfen schon alle ausgerissen hat. Trichotillomanie!