Abgekratzt…

Karl Kratz
Karl Kratz

Karl Kratz liebt und lebt feines Online-Marketing seit 1996. Er ist Autor diverser Online-Marketing-Publikationen (Welcome to the System, Haifischbecken Internet Marketing, Landingpage SEO) und betreibt die Online-Marketing-Plattform karlsCORE public.

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Welche Macht hätte ein Mensch, der Besucherströme in Suchmaschinen und auf sozialen Plattformen gezielt auf bestimmte Websites lenken könnte? Also zum Beispiel jede gute Suchmaschinen-Optimiererin (w/m/d)?

SEO, SEA, soziale Medien, Plattformen, Apps, AR - die Zahl der Möglichkeiten steigt täglich, um über das „Vehikel Online-Marketing“ Realitäten, Wissen, Erfahrungen, Wertvorstellungen vieler Menschen zu verändern, zu beeinflussen, zu manipulieren.

Jeder, der einmal ganze Keyword-Cluster bei Suchmaschinen in hart umkämpften Bereichen auf Top-Positionen brachte, konnte diese unsichtbare „Macht“ spüren: Plötzlich strömen große Besuchermengen auf die eigene Seite – und eben nicht mehr woandershin. Was auf der eigenen Seite dann geschieht, ist oft ein komplexes Zusammenspiel aus Kontext, Inszenierung und Aufmerksamkeitslenkung – bis hin zur Konversion.

Die gesamte Online-Marketing-Branche sitzt mit ihrem Wissen und ihrer gestalterischen Kraft an einem sehr großen Hebel. Und es fühlt sich an, als beginne gerade ein neues Zeitalter der Erkenntnis.

So fragt zum Beispiel Marco Janck (Geschäftsführer der Online-Marketing-Agentur SUMAGO aus Berlin und Veranstalter der Marketing Underground) auf Facebook, „wie (Online-)Marketing-Agenturen ihren Teil zu einer besseren Umwelt beitragen könnten“.

Ich finde diese Frage mutig, gut und richtig – und gleichzeitig öffnet sie ein großes Feld an Konsequenzen:

Natürlich kann man sich als Agentur selbst analysieren und Strom sparen, umweltbewusster agieren, vom Flugzeug auf Zug umsteigen und so weiter. Das ist alles vorbildlich und jeder sollte es im Rahmen seiner Möglichkeiten umsetzen. Allerdings trifft es nicht den Kern der Sache:

Agenturen, die diese Frage wirklich ernst nehmen, würden zum Beispiel ihr Kunden-Portfolio durchleuchten: Ein SEA-Projekt für die Deutsche Bank? SEO-Projekte für Nestlé? Social Media für die Bundeswehr? Content-Marketing für Heckler & Koch?

Welchen Unternehmen verhilfst Du mit Deinem Online-Marketing-Wissen zu mehr Sichtbarkeit, Reichweite, Umsatz, Gewinn und Macht?

Diese Beispiele sind natürlich sehr provokant – und dennoch wird man in den meisten Auftragsbüchern gut aufgestellter Agenturen fündig: Finanzkonzerne, Pharmaindustrie, Chemieunternehmen, Waffentechnik, Luxusgüter. Und jetzt wird es schwierig: Wo beginnt eigentlich „schlecht“ und wo endet „gut“?

Welche Agentur würde einen sechs- oder siebenstelligen Auftrag für „systematische öffentliche Meinungsbildung“ – äh, ich meine „Content-Marketing“ – ablehnen, nur weil dieser von Procter & Gamble kommt?

Und selbst wenn eine Agentur für sich entscheidet, ab sofort nur noch Unternehmen mit nachhaltigen, umweltfreundlichen Portfolios zu bedienen, lässt diese lobenswerte Haltung ja nicht all die anderen potenziellen Kunden verschwinden.

Im besten Fall kommt das klassische Totschlag-Argument: „Dann macht es jemand anderes!“ Ja. Es wird immer jemanden geben, der das macht, was niemand machen sollte. Irgendjemand schreddert auch Küken – und sogar in dieser Branche beginnt gerade ein Umdenken.

Generell entsteht gerade eine neue Bewegung: Unternehmen, die den Kapitalismus nutzen, um die Welt kontinuierlich besser zu machen. Wie zum Beispiel ECOSIA und Einhorn-Kondome. Das braucht Innovation und Mut – und trifft auf großen Zuspruch.

Jeder im Online-Marketing – egal welche Disziplin und egal in welchem Unternehmen – sollte sich die Frage stellen, für welche Sache er sein Wissen, seine Erfahrung und Energie einsetzt: Wird die Welt durch sein Engagement ein Stück besser – oder kann sich ein CEO dann endlich seinen dritten Sportwagen kaufen?