Im Zeitalter von Digitalisierung, exorbitanten Bildschirmzeiten und ständiger Ablenkung gewinnt ein aufstrebender Trend immer mehr an Bedeutung: die digitale Achtsamkeit. Doch fordert diese Strömung wirklich eine Rückkehr in vordigitale Zeiten und die gänzliche Ablehnung von Digitalität und Fortschritt? Ist digitale Achtsamkeit ein esoterisch angehauchtes Nischenthema oder bietet sie greifbare Vorteile für die Arbeitswelt? Der Beitrag von Lisa Lan Anja Hutterer beleuchtet, wie digitale Achtsamkeit zum Glücks- und Erfolgsfaktor für die Gesellschaft werden kann.
Die neue Ära der digitalen Achtsamkeit –
das Ende der ständigen Erreichbarkeit?
Bill Gates, Steve Jobs und das Handyverbot
Immer mehr Kinder leiden unter Sprachstörungen. Ein Grund dafür: exzessive Nutzung digitaler Medien, wie zum Beispiel Smartphones, Social Media und Computerspiele. Doch nicht nur die Sprache leidet. Zahlreiche Studien geben Indizien auf eine Korrelation zwischen starkem Technologie- und Medienkonsum und Depression, Angstzuständen, unterentwickelter Empathie und Motorik und mehr. Bereits 2018 hat die WHO „Gaming Disorder“ (auf Deutsch: Videospielsucht) offiziell als Krankheitsbild beschrieben. Von den größten Techgiganten ist bekannt, dass sie ihren Kindern nur sehr begrenzt die Nutzung ihrer eigenen Erfindungen erlaubten: Die Kinder von Bill Gates beispielsweise durften bis zum Alter von 14 Jahren kein Mobiltelefon benutzen. Auch Steve Jobs untersagte seinen Nachkömmlingen die Nutzung des iPads. Die hellsten Köpfe Silicon Valleys wussten offensichtlich seit jeher um die negativen Konsequenzen digitaler Übernutzung.
„Digitales Burn-out“: Auch Erwachsene sind betroffen
Doch all das betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche. Auch viele Erwachsene fühlen sich durch ständige Erreichbarkeit dauerhaft belastet. „Digitales Burn-out“ wird zunehmend als Phänomen im Job und im Privatleben erkannt. Das kann zu gesundheitlichen Folgen wie Erschöpfung, kognitiver und emotionaler Irritation oder Reizüberflutung führen. Aber auch die Karriere kann leiden: Geringere Produktivität, niedrigere Arbeitsfähigkeit und höhere Jobunzufriedenheit sind nur einige der möglichen Folgen der digitalen Überbelastung. Und: Niemand gibt es gerne zu, aber vielen kommen soziales Vergleichen, Neid und Missgunst auf Social Media nur allzu bekannt vor.
„Aufmerksamkeit ist zur wichtigsten Währung der digitalen Welt geworden – und soziale Medien und Techgiganten sind ihre Machtkartelle.“
Darum machen Social Media und Co. so süchtig
Doch was lässt uns im Schnitt 55-mal am Tag zum Handy greifen, die Bildschirmzeit auf durchschnittlich drei Stunden steigen und in den Sog des „Doomscrollings“ (endloses Scrollen) geraten? Die Antwort liegt in ausgeklügelten Strategien. Aufmerksamkeit ist zur wichtigsten Währung der digitalen Welt geworden – und Social-Media-Plattformen und Techgiganten sind ihre Machtkartelle. Indem sie sich psychologische Prinzipien und neurochemische Reaktionen zunutze machen, fesseln sie User an ihre Devices und Inhalte:
- Push-Nachrichten: Benachrichtigungen informieren uns sofort über Neuigkeiten und erzeugen ein Gefühl von Dringlichkeit.
- „Fake Dopamin“: Leuchtende Farben stimulieren das Gehirn und führen zur Ausschüttung von Dopamin, dem „Glückshormon“.
- Soziale Validierung: Jede Online-Interaktion verstärkt die Belohnungsspirale. Das Bedürfnis nach Anerkennung wird ständig genährt.
- Unvorhersehbarkeit: Ähnlich wie Spielautomaten setzen soziale Plattformen auf das Prinzip der Überraschung – jeder Post könnte etwas Neues bieten.
- Endloser Feed: Ein nie endender Strom an Inhalten verhindert natürliche Pausen.
- Autoplay: Automatisch startende Videos erhöhen die Verweildauer ohne aktives Zutun.
- FOMO (Fear of missing out): Die Angst, etwas zu verpassen, treibt an, regelmäßig alle Kanäle zu checken.
- Exzellente Algorithmen: KI-gestützte Empfehlungen passen Inhalte perfekt an individuelle Vorlieben an und verlocken zum Weiterscrollen.
- Instant Gratification: Schnelle Belohnungen durch Likes, Kommentare und Follower erzeugen ein sofortiges positives Feedback.
„Digitalisierung ist gut und wichtig, aber der Umgang mit dem digitalen Sog will gelernt sein.“
Zurück zu Brieftaube, Faxgerät und Nokia 3310?
Doch was nun? Ein Rückschritt in die „vordigitale Steinzeit“ ist weder realistisch noch wünschenswert. Ebenso wenig, wie den sozialen Medien komplett zu entsagen oder sich (oder Kindern) die Nutzung digitaler Technologien zu verbieten. Schließlich profitieren wir enorm von den Möglichkeiten der Digitalisierung: Sie ermöglicht Produktivität, Kommunikation, Kollaboration, Information, Weiterbildung und mehr. Kurz gesagt: Digitalisierung ist gut und wichtig, aber der Umgang mit dem digitalen Sog will gelernt sein. Hier setzt das Konzept der digitalen Achtsamkeit an: ein bewusster und selbstbestimmter Umgang mit digitalen Medien und Technologien, der Effizienz und gleichzeitig Wohlbefinden ermöglicht.
Digitale Achtsamkeit > Digital Detox
Eine radikale Antwort auf die digitale Überforderung ist der Digital Detox (Technologieentzug): Man geht zeitweise offline und entzieht sich allen digitalen Reizen. Doch der Effekt dieses „kalten Entzugs“ hält meist nur kurzfristig an und löst selten das Grundproblem. Im Gegenteil. Währenddessen sammeln sich umso mehr Notifications, E-Mails und Nachrichten und wollen beachtet werden.
Digitale Achtsamkeit dagegen setzt auf nachhaltige Veränderungen, ohne auf Technik zu verzichten. Digitales soll bewusst und ausgeglichen genutzt werden, ohne sich der digitalen Welt völlig zu verschließen. Dieser Ansatz fördert die Kontrolle über das eigene Nutzungsverhalten und verbessert Lebensqualität und Produktivität – ideal für Befürworter und Mitgestalter der Digitalisierung, die sich nicht vom digitalen Sog kontrollieren lassen möchten.
Doch wie lässt sich das in den Alltag integrieren, wenn man auf Devices, Apps und Technologien angewiesen ist? Im Folgenden sind praxistaugliche Tipps für das Privatleben aufgelistet.
„Jeder hat ein natürliches Recht darauf, nicht erreichbar zu sein: Nur weil man stets erreichbar sein kann, heißt es nicht, dass man stets erreichbar sein muss!“
Weniger Scrollen, mehr Gelassenheit – digitale Achtsamkeit im privaten Alltag
- Screentime tracken: Durch regelmäßiges Tracken der Bildschirmzeit können Nutzungsgewohnheiten erkannt und verbessert werden. Fordern Sie sich selbst heraus und reduzieren Sie Ihre Screentime jeden Tag ein bisschen mehr.
- Aufwachen ohne Handy: Dieser Tipp ist ein wahrer Evergreen der digitalen Achtsamkeit und wird dennoch immer wieder gekonnt missachtet. Wenn am Morgen Nachrichten, Social Media und E-Mails auf Sie einprasseln, entsteht sofort ein Gefühl von Reizüberflutung und Dringlichkeit. Dieser erhöhte Stress zieht sich dann durch den Tag.
- Schwarz-Weiß-Ansicht aktivieren: Viele Handys und Devices ermöglichen eine Graustufen-Ansicht. Apps werden sofort weniger attraktiv und Scrollen macht nur wenig Spaß.
- Gruppenchats aussortieren: In wie vielen unwichtigen Gruppen sind Sie auf WhatsApp und Co.? Sortieren Sie irrelevante oder inaktive Gruppenunterhaltungen aus. So vermeiden Sie unnötige Ablenkungen.
- Handyfreie Zonen einrichten: Definieren Sie zu Hause handyfreie Bereiche, zum Beispiel den Esstisch oder das Schlafzimmer.
- Helfer-Apps nutzen: Es gibt viele Apps, die soziale Medien mit Suchtfaktor limitieren oder blockieren. Einfach im App-Store „Digital Detox“ suchen und präferierte App downloaden!
- Das eigene Umfeld über Offline-Zeiten informieren: Viele Menschen tun sich schwer mit dem Gedanken, nicht erreichbar zu sein. Hier kann es hilfreich sein, Freunde und Familie vorab zu informieren, zum Beispiel mit dem Hinweis „Ab jetzt ist mein Sonntag/Freitagabend/nach 19 Uhr immer handyfrei!“.
- Jeder hat ein natürliches Recht darauf, nicht erreichbar zu sein: Nur weil man stets erreichbar sein kann, heißt es nicht, dass man stets erreichbar sein muss! Dies gilt übrigens auch nicht nur für Sie selbst, sondern auch für andere!
Doch wie könnte digitale Achtsamkeit im Job aussehen? Hier gibt es eine stärkere Verpflichtung, immer rasch und auf verschiedenen Kanälen erreichbar zu sein. Gute Planung, genaue Absprachen im Team und ein wachsames Auge durch Vorgesetzte sind besonders wichtig:
Fokus statt Überforderung – digitale Balance im Beruf
- E-Mail-Zeiten festlegen: Ist Ihr E-Mail-Postfach immer geöffnet? Lesen Sie jede E-Mail sofort? Das unterbricht jedes Mal Ihren Arbeitsfluss und kostet wertvolle Produktivität. Definieren Sie lieber feste Zeiten, in denen Sie Mails bearbeiten. Dies gilt auch für andere digitale Kommunikationskanäle.
- Absprachen zu Kommunikationspausen treffen: Einigen Sie sich im Team auf Slots für Fokuszeiten. So können alle ungestört arbeiten, ohne ständig neue Benachrichtigungen zu checken.
- Vorgesetzte mit Vorbildfunktion: Führungskräften kommt eine besondere Verantwortung zu. Sie sollten bei Teammitgliedern auf Signale der digitalen Erschöpfung und Überforderung achten und dies bei Bedarf ansprechen. Als Vorbild können sie digitale Balance unterstützen und aktiv vorleben.
- Analoges Arbeiten: Wann haben Sie das letzte Mal ohne digitale Devices ein Brainstorming gemacht, Ideen aufgeschrieben oder ein Konzept ausgearbeitet? Es mag ungewohnt klingen, aber viele Aufgaben lassen sich auch „digitalfrei“ ganz wunderbar und produktiv erledigen!
Fazit
Die Digitalisierung bietet immense Vorteile und ist nicht mehr wegzudenken. Doch viele Menschen fühlen sich zunehmend dem digitalen Stress ausgeliefert. Denn soziale Medien und Techkonzerne wissen nur allzu gut, wie sie das wertvolle Gut Aufmerksamkeit monopolisieren können. Es gilt, dem Druck der ständigen Erreichbarkeit und des ewigen Scrollens standzuhalten. Ein selbstbestimmter und achtsamer Umgang mit der digitalen Welt wird immer wichtiger. Hier setzt das Konzept der digitalen Achtsamkeit an: Sie fördert nicht nur das Wohlbefinden, sondern steigert die Produktivität von Individuen und Teams. Dabei geht sie über einen kurzfristigen Digital Detox hinaus und setzt auf nachhaltige Veränderungen. So wird Raum für Fokus, Leistungsfähigkeit und Lebensqualität geschaffen. Wie viel mehr könnten wir erreichen – und wie viel erfüllter könnten wir leben –, wenn wir lernen, den digitalen Stress hinter uns zu lassen?