Mapping Experiences – Erleben abbilden, Teil 1

Karolina Schilling
Karolina Schilling

Karolina Schilling ist Diplom-Ingenieurin für Medientechnik (FH), UX-Designerin, Persönlichkeits-Coach und ressourcenorientierte Therapeutin, die ihr Wissen im täglichen Team-Miteinander einsetzt und interdisziplinäre Teams mithilfe von Design-Thinking zur Zusammenarbeit und durchs Projekt führt.

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Vielleicht hatten wir ein wenig außer Acht gelassen, dass User Experience Design (UXD) keine neuzeitliche Entdeckung ist, sondern bereits im 1. Jh. vor Christus von dem römischen Architekten und Ingenieur mit dem Kosenamen „Vitrus“ – Marcus Vitruvius Pollio – als grundlegendes Prinzip erkannt wurde. Damals ging es darum, ein Bauwerk so zu gestalten, dass es seiner Funktion gerecht wurde, die Erwartungen des Nutzers erfüllte und ihm Freude bereitete. Vitrus bezeichnete diese Trinität mit den Begriffen „Festigkeit“, „Nützlichkeit“ und „Schönheit“. Und so sollte auch das Design jeglicher Nutzererfahrung ein absichtsvolles Vorhaben sein. Doch in Zeiten von Multitasking, Abteilungen und „bis gestern“ kommen uns strategisches Design und der übergreifende Blick auf einen Service oder ein digitales Produkt bisweilen abhanden. Das führt zu Lücken im Nutzer- und Kundenkontakt, die für Unzufriedenheit auf beiden Seiten sorgen. Welchem Mitarbeiter macht es schon Spaß, frustrierte Kunden immer und immer wieder abzuholen und sich für die Missgeschicke des Unternehmens zu rechtfertigen? Kunden sind Nutzer, ja, und genauso sind es die eigenen Mitarbeiter. Damit rückt UX- Design von der operativen in die strategische Ebene und wird zur UX-Strategie, indem es Tools und Methoden anbietet, die dabei helfen, Prozesse oder Systeme bereichsübergreifend und nutzerzentriert abzubilden, Lücken zu identifizieren und interne sowie externe Prozesse zu Optimierungszwecken zu visualisieren. Experience Mapping – Erlebnisse abzubilden – ist dafür hervorragend geeignet, wie Karolina Schilling nachfolgend aufzeigt.

Wir erleben die ganze Zeit

Das Leben ist ein kontinuierliches Erleben von aneinandergereihten Situationen. Ob wir ein Buch lesen, Auto fahren, im Krankenhaus liegen, eine App bedienen, Kaffee machen, in einem Restaurant essen, vor dem Bankautomaten stehen, uns mit jemandem unterhalten oder irgendwo hinfliegen – wir sammeln Erlebnisse und bewerten diese als toll, super, gut, okay, na ja, anstrengend – wie auch immer. Wir ziehen Bilanzen: „Das hätte ich mir sparen können“, oder: „Das müssen wir unbedingt noch mal machen!“, und entscheiden uns bewusst oder unbewusst für oder gegen ein Produkt, ein Restaurant, einen Menschen. Wird es uns zu anstrengend, haben wir einfach keinen Bock mehr drauf. Dann ist nur noch die Frage, ob wir aktiv etwas tun, um unsere Lebensqualität wieder anzuheben, oder ob wir im passiven Jammermodus bleiben, in dem alle anderen schuld sind. Auf persönlicher Ebene betrachtet, geht es um eine Marotte, doch betrifft es mehrere Menschen in einer Organisation, dann wird es zur Unternehmens-Kultur. Damit wir Menschen Dinge greifen und begreifen können, brauchen wir häufig eine Visualisierung. Das, was wir sehen, können wir glauben. Mapping ist also ein Werkzeug und eine Methode, um Prozesse, Zustände und Ziele zu visualisieren – diese können überall vorkommen, überall, wo Menschen und Systeme in Interaktion treten. Dabei reiht sich das relativ neue „Experience Mapping“ in die nutzerzentrierten Design-Thinking-Methoden ein, die nicht darauf kucken, wie toll ein System ist, sondern wie sich ein Nutzer bei der Nutzung fühlt. Es ist der Switch von der Business-Perspektive des 20. Jahrhunderts „Was biete ich an“ zu der Perspektive des 21. Jahrhunderts: „Was brauchen meine Kunden?“ Noch deutlicher wird es, wenn wir auf Bereiche sehen, in denen es nicht in erster Linie um „Kunden“ geht. Wie erleben Mitarbeiter das Unternehmen? Wie erleben Krankenschwestern das Gesundheitssystem? Und was ist im jeweiligen Kontext überhaupt der Wert? Was ist einem Mitarbeiter wichtig? Manche Systeme sind so starr, dass von Mehrwert zu sprechen, schon gewagt wäre.

Na gut, wird sich der konservativ denkende Kopf fragen: Wozu? Es gibt eine einfache Antwort: Wir leben in der Zeit der Paradigmenwechsel. Vom „ich“ und „mir geht’s gut“ zum „du“ und „dir geht’s gut“ und manche schaffen es sogar zum „uns geht’s gut“. Ein Win-Win. Einfaches Bestellen auf Amazon – prima. Wäre ein solches Modell im 20. Jahrhundert nicht denkbar gewesen, wird es heute „disruptiv“ genannt, weil es die alte Branche umhaut und zum Umdenken zwingt. Noch neuere Business-Modelle werden sogar ein Erlebnis-Dreieck auftun: Dir geht’s gut, mir geht’s gut und ihnen geht es gut. Hinter „ihnen“ stehen die bisher Ausgebeuteten. Die Produzenten, die Arbeiter, die Bienen. Sie profitieren davon, dass wir bewusster werden und einen Wert darin empfinden, Kleidung zu tragen, die mit Freude statt mit Gift hergestellt wurde. Oder auch: Arbeit zu haben, ist kein ausreichender Wert mehr. Das war für unsere Omas wichtig. Heute ist es wichtig, seine Arbeit als sinnvoll zu empfinden. Konsum ist kein Wert mehr, aber nachhaltiger Konsum ist es. Die neuen Menschen haben andere Ideen und drücken diese in Business-Modellen aus. Experience Mapping öffnet also ein großes Feld, in dem ein Lebenswandel stattfindet. Um sich dem zu nähern, erklären wir im Teil 1 erst einmal die Basics.

Was heißt Mapping

Klar, das Wort „map“ aus dem Englischen erinnert uns an die Landkarte, denn „to map“ heißt, etwas aufzuzeichnen, etwas zu kartografieren, zu entschlüsseln, zu gestalten und auch zu entwerfen, zu formulieren und noch zig andere Bedeutungen, die letztendlich dazu führen, dass wir etwas sichtbar machen, was nicht auf Anhieb sichtbar ist. Wir können Strukturen, Prozesse, Abläufe visualisieren und Erkenntnisse daraus gewinnen, wo Lücken vorhanden oder Abläufe unterbrochen sind. Alles mit dem Ziel, diese Lücken zu schließen, denn etwas Fehlendes weist auf einen Fehler hin und den möchten wir am liebsten behoben wissen. Doch das ist technisch gedacht. Die „Lücken“ im Experience Mapping, das menschliche Emotionen in den Fokus stellt, sind Frust, Demotivation, kein Bock bis hin zu krank werden. Das sind die echten Kosten, die wir als Gemeinschaft zu tragen haben, wenn wir in einem System den Einzelnen außer Acht lassen.

Klassische Alignment Diagrams

Fürs Sichtbarmachen reichen Wände und großes Papier, eine Handvoll gut schreibender Stifte und natürlich Post-its. Und dann kann es passieren, dass nicht klar ist, wie wir überhaupt anfangen und dann weitermachen sollen. Deshalb stellt der Autor, Speaker und Gründer diverser UX-Konferenzen Jim Kalbach in seinem Buch „Mapping Experiences“ als Erstes die fünf klassischen Diagramme des Mappings vor.

Im Deutschen ist die Übersetzung des Alignment Diagrams etwas sperrig, aber das sogenannte Abgleichsdiagramm ist nicht neu und stellt die Berührungs- und Interaktionspunkte (Touch Points) zwischen Menschen und Organisationen, Kunden und Anbietern dar. Wann wird jemand zum ersten Mal auf einen Service oder ein Produkt aufmerksam und wie kann derjenige mehr darüber erfahren, zum Kaufen ermuntert und schließlich während der Nutzung betreut werden?

Diese Oberkategorie der Alignment Diagrams wird in fünf Unterkategorien aufgeteilt: Service Blueprints (Service-Entwürfe), Customer Journey Maps, Experience Maps, Mental Model Diagrams (Mentale Modell-Diagramme) und Spatial Maps (dreidimensionale Karten oder Diagramme). Diese Archetypen dienen häufig als Vorlagen für weitere Modelle, in denen außerdem Sichten kombiniert werden können. Schauen wir uns als Grundlage diese Diagramme einzeln an, um zu sehen, welche Perspektiven sie mitbringen, die uns dann helfen, Nutzer besser zu finden, zu verstehen und sogar neue Business-Modelle zu entwerfen.

Service Blueprints – Service-Entwürfe

Service-Entwürfe zeigen zu einem spezifischen Use Case den Ablauf einer gesamten Interaktion mit dem Service auf einer Zeitschiene. Beispielsweise kann das der Online-Kauf einer Theaterkarte sein – von der Registrierung über die Eingabe der Zahlungsmethode bis zum postalischen Versand der Karten. Eingezeichnete Ebenen können sein:

  • Die sichtbare Ebene mit Interaktionselementen (Werbung im Internet, Registrierungsformular) für den Nutzer
  • Die Aktionen des Nutzers (Registrieren, Bezahlen, Umschlag mit Tickets öffnen, Hingehen, eine Rezension verfassen)
  • Die sichtbaren Aktionen des Systems (kann natürlich verteilt auf automatisierte Prozesse und menschliche Interaktionen sein; zum Beispiel: Bestätigungs-E-Mail der Buchung und dann persönliche Begrüßung beim Eintritt in das Theater)
  • Die hintergründigen Aktionen des Systems (Bezahlvorgang durchführen, Tickets drucken, per Post verschicken)
  • Schließlich die notwendigen unterstützenden Aktionen im Hintergrund, um diesen Service überhaupt anbieten zu können (z. B. Online-Marketing, die Anbindung eines Online-Zahlungsanbieters, Angestellte im Theater, Catering in den Pausen, Shuttle-Busse etc.)

Fazit: Service-Entwürfe zeigen die nahtlose Interaktion eines Menschen mit einem System, gehen dabei aber mehr auf die sichtbaren Aktionen sowie Ergebnisse und die Hintergrund-Prozesse im System ein, um Zusammenhänge zu verstehen. Sie sind nicht in dem Sinne nutzerzentriert, weil sie davon ausgehen, dass der Nutzer einfach mitspielt. Wie es dem Nutzer dabei geht und worauf er anspricht, wird in Customer Journey Maps erweitert.

Customer Journey Maps

Man könnte sagen, dass Customer Journey Maps auf den Service Blueprints aufbauen und die Erfahrungen eines Individuums als Kunde eines Unternehmens darstellen. Wo dieser Kontakt mit dem Unternehmen anfängt und wo er aufhört (oder besser, wieder initiiert wird), wird konzipiert. Das heißt, die Zeitachse kann deutlich länger werden und es werden auch mehr und andere Ebenen hinzugenommen. Jetzt interessieren nicht die Feinheiten des Systems, sondern die Befindlichkeiten des Kunden und die Business-Chancen, die sich aus dem Angebot einer Lösung des Systems für den Kunden ergeben.

Hier wird also nicht nur der Kontakt mit einem speziellen Dienst auf operativer Ebene betrachtet, sondern ebenfalls die Ansprache vor dem Kauf, die die Mehrwerte des Dienstes skizziert, sichtbar macht und als Lösung eines Problems auf Kundenseite darstellt. Das Ziel der Customer-Journey-Strategie ist, den Kunden immer wieder als Kunden zu gewinnen, ihn also zu halten und den Lebenszyklus der Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen so lang wie möglich zu gestalten, und das mithilfe von Vertragsbindungen, zusätzlichen Services, neuen Produkten, Upgrades etc. Wir haben also auf der Kundenseite die Ebenen Aktionen, Gefühle, gewünschtes Ergebnis (Motivation) und Schmerzpunkte, also die Probleme, für die das System die ersehnte Lösung anbietet (das Produktversprechen). Auf Systemseite können wir die Ebenen Aktionen, Stärken, Schwächen, Business-Chancen und Herausforderungen skizzieren. Dazwischen liegen wieder die Interaktionen zwischen Nutzer/Kunde und System/Organisation. Bei der Customer Journey Map ist noch zu beachten, dass der Nutzer unterschiedliche Stadien durchläuft: vom Interessenten zum Nutzer zum Stamm-Kunden – dafür gibt es auch drei Personas: Buyer-Persona, User-Persona und Customer-Persona. In jedem Stadium braucht das Individuum etwas anderes, um sich gut zu fühlen. Beispiel Dating-Plattform: Um sich für ein Abo zu entscheiden, braucht es das Produktversprechen, dass dieser Service funktioniert (Buyer-Persona). Damit sich dieses Produktversprechen einlöst, sollte man das Produkt sinnvoll nutzen (Profil ausfüllen, andere anschreiben > User-Persona). Und schließlich braucht es Zuschriften von anderen, damit das Produkt seine Aufgabe (Partner finden) erfüllen kann und der Nutzer das Abo verlängert (oder nicht kündigt) – Customer-Persona.

Experience Maps

Experience Maps haben zum Ziel, das Individuum in einer speziellen Situation noch mehr aufzufächern und seine Handlungen, Gedanken, Gefühle und das persönliche Erleben darzustellen. In Experience Maps geht es also vornehmlich um das Individuum, weniger um das System. Die einzige Perspektive, die noch für das System bleibt, sind Chancen, die sich aus der intensiven Betrachtung des Individuums für das System ergeben.

Damit sind Experience Maps in ihrem Ansatz ziemlich neu, denn mit ihnen hat man den Mut, das System und wie es funktioniert zugunsten des Menschen außer Acht zu lassen. Also nicht mehr: „So haben wir das hier immer gemacht“, sondern: „Wie könnte man es für neue Kollegen/Kunden/Patienten/x einfacher machen?“

Es wäre sogar denkbar, die Ebenen aufseiten des Systems völlig wegzulassen. Dadurch erhielte man eine ungeheure mentale Freiheit, die das völlige Neudenken und Neustrukturieren der Prozesse zuließe. In diesem Fall würde sich ein System den Bedürfnissen anpassen – also die volle nutzerzentrierte Betrachtung.

Was sind die Vorteile von Mapping – wozu sollte man dieses Tool nutzen?

Mapping ist nicht bequem. Es braucht Neugier, Durchhaltevermögen und Spaß an Optimierung. Mapping ist ein Werkzeug, das dabei hilft, Entwicklungspotenzial aufzuzeigen und zu nutzen. Während des Mapping-Prozesses kommt es in einem lebendigen Team ganz natürlich zu Diskussionen (das ist der anstrengende Teil) und gleichermaßen zu Erkenntnissen (das sind die Früchte). Weitere Früchte dieses Prozesses sind:

  • Mapping hilft dabei, das große Ganze zu sehen. Der Blick auf das Ganze erlaubt strategisches Denken. Es ist der Sprung von der passiven Hamsterrad- in die aktive Gestaltungsebene. Hier werden Visionen skizziert, Business-Ziele visualisiert und die Kontinuität eines Unternehmens geformt. Für bestehende und neue Mitarbeiter, für Kunden, für Führungskräfte. Dieser Blick gibt Orientierung, Motivation, kurz Sinn.
  • Mapping erlaubt Perspektivwechsel und Empathie. Wir reden vom Kunden, vom Mitarbeiter, vom Patienten, aber nehmen wir uns die Zeit, in diese Perspektiven wirklich konsequent einzutauchen und sie nachzufühlen? Mapping ermöglicht, ein Erleben mit seinen Höhen und Tiefen durchzuspielen und Blockaden zu entdecken, an denen sich Menschen abrackern.
  • Mapping trägt dazu bei, zu entschlacken und Fokus zu halten. Sobald das Wesentliche herausgearbeitet ist, gibt es einen roten Faden und ein klares Ziel. Daran kann sich die Umsetzung orientieren – selbst wenn es ein längerer Prozess ist, erlaubt ein regelmäßiges Überprüfen der Map, ob man mit seinem Vorhaben noch on-track ist.
  • Mapping bringt das Team wieder zusammen. Oder sogar Bereiche, die vorher gerade einmal voneinander wussten, dass sie existieren. Mit Mapping wird sichtbar, was die linke und die rechte Hand tun. Das erlaubt sogar Empathie im Unternehmen unter den Kollegen.
  • Mapping trägt dazu bei, die Unternehmenskultur zu ändern. Allein die Bereitschaft, ein Mapping zusammen durchzugehen, zeugt von Potenzial für eine nutzerzentrierte Unternehmenskultur. Schon damit anzufangen und sich eventuell einen Coach von außen zu holen, mit dem man die Prozesse immer wieder prüfen und neue Bereiche oder Anliegen mappen kann, bringt Schwung in verstaubte Kulturen. Aber bitte mit Fingerspitzengefühl für die Mitarbeiter – und das wabernde Phantommonster „Digitalisierung“.
  • Mapping zeigt neue Business-Chancen auf. Sobald man mit dem Experience Mapping hinsichtlich des eigenen Service beginnt, ergeben sich ungeahnte Erkenntnisse aus denen – versprochen – neue Produkt- oder Service-Ideen generiert werden können. Mehr wollten wir doch nicht, oder?