Mikromarketing für Wähler?

Mario Fischer
Mario Fischer

Mario Fischer ist Herausgeber und Chefredakteur der Website Boosting und seit der ersten Stunde des Webs von Optimierungsmöglichkeiten fasziniert. Er berät namhafte Unternehmen aller Größen und Branchen und lehrt im neu gegründeten Studiengang E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.

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Ja, über Facebook kann man Wahlen beeinflussen. Nein, das geht nicht, ein Fake. Die meisten von Ihnen werden wohl die Diskussion über den Anteil der Firma Cambridge Analytics am Wahlsieg von Donald Trump mitbekommen haben. Nachdem das Unternehmen andeutete, dass man hier Einfluss genommen habe („Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt“: einfach.st/ca4), fielen die Medien über das Thema hier und zerrissen alles als Werbegetöse in der Luft. Auch der angebliche Wahlkampfbot für Martin Schulz stellte sich mittlerweile als Fake heraus. Trotzdem und nach vielen Diskussionen v. a. in Facebook lässt es mich – und auch die Sorge darüber – noch nicht richtig los.
Ist der Gedanke, Wahlen mit den modernen Methoden des Mikromarketings zu beeinflussen, tatsächlich aus der Luft gegriffen?

Keine Frage. Facebook und andere Werbeplattformen erlauben es wie keine anderen, One-to-one-Marketing zu betreiben. Der einzelne Konsument fühlt sich dabei persönlich angesprochen und hat das Gefühl, die Botschaft wurde (fast) individuell für ihn erstellt. Über Targeting können wir heute z. B. einen Beitrag über Fahrradzubehör jemandem in seinen Nachrichtenstream einsortieren lassen, der den letzten Urlaub mit seinem Drahtesel in Spanien, genauer gesagt in der Nähe von Valencia verbrachte. Mit mehreren anderen Fahrradfahrern, also kein Einzelgänger. Natürlich sollte er sich unser Zubehör auch leisten können, und so begrenzen wir sein Einkommensniveau nach unten. Idealerweise pendelt er im Sommer auch ab und an zur Arbeit mit dem Rad. Über das Smartphone lässt sich so was über die Bewegungsgeschwindigkeit messen. Und er sollte auch schon mal bei einem größeren Radrennen zugesehen haben und unsere Marke mögen. Nicht über 55 und älter als 25. Ach ja, ein absolviertes Studium wäre nicht schlecht, zumindest Abitur. Damit wir wirklich einen sportlichen Typ erwischen, sollte er auch Interesse an mindestens zwei anderen Sportarten zeigen und eine davon sollte mit Laufen zu tun haben. Und letztes Jahr möge er bitte Vater geworden sein. Weiterhin nutzt er ein Smartphone der Marke Sony und ist Kunde bei der Telekom. Ist Ihnen das zu abgefahren? Nein, gar nicht. So was geht heute. Natürlich bekommt man pro Einschränkung immer weniger Nutzer in die Fänge, aber darum geht es ja. Möglichst nah an das One-to-one rankommen. Und natürlich kann man so etwas dann nicht mehr manuell aussteuern und für jeden Werbeempfänger einzeln Kriterien zusammenklicken. So etwas erledigen besser Maschinen, die regelgesteuert arbeiten und über sog. API Schnittstellen die nötigen Daten austauschen.

„Nirgends ist Fahrradfahren so schön wie in Valencia!“

In dem Fall oben könnte man z. B. für jeden Urlaubsort, den wir automatisiert wählen, einen entsprechenden Satz mit diesem Ort in die Werbebotschaft schreiben. Wenn ich letztes Jahr in Valencia war, ist doch völlig klar, dass ich auf eine entsprechende Textbotschaft eher reagiere, als wenn dort allgemein von Urlaub gesprochen oder gar Timbuktu genannt würde. Wer allerdings in Timbuktu war, wird es wohl umgekehrt das interessanter finden. So weit zumindest grob zum Prinzip des Mikrotargetings.  

„Nirgends ist Fahrradfahren so schön wie in Timbuktu!“

Wir alle werden ständig beeinflusst – und merken rein gar nichts davon

Beim Marketing geht es schon immer darum, die Meinung der Menschen zu beeinflussen – und zwar am besten so, dass diese es nicht bemerken. Natürlich positiv hinsichtlich der eigenen Marke und positiv für einen zu tätigenden Kauf. Die Methoden werden immer ausgefeilter und wer sich in letzter Zeit eingehender mit Neuromarketing beschäftigte, weiß, dass den hochmodernen Stöbermethoden der Wissenschaft im Konsumentenhirn immer weniger verborgen bleibt. Abgekühlter Backofenduft der Bäckerei im Supermarkt wird in die Lüftung geblasen, subliminal (d. h. unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle) etwas Zitronen- und Vanillearoma dazu, Musik im Rhythmus von Herzschlägen und eine Laufrichtung gegen den Uhrzeigersinn. Und schon kaufen wir mehr ein als ohne diese für uns unauffälligen Einflüsse auf unser Gehirn. Menschen gezielt zu beeinflussen, etwas zu tun, dem sie zuneigen, ist also ein alter Hut. Natürlich bekommt man keinen sparsamen Familienvater mit fünf Kindern dazu, statt eines Vans einen Porsche zu kaufen. Aber bei der Entscheidung, welchen Van, kann man durchaus nachhelfen. Und den gut verdienenden, aber noch unentschlossenen DINK (Double Income no Kids) kann man vielleicht von einem Mercedes oder BMW weg zu Porsche holen. Ziel sind meist die noch Unentschlossenen.

Wähler über Facebook ansprechen – das findet schon lange statt

Experten zufolge nutzt z. B. die AfD Facebook bereits intensiv und hat dort mittlerweile eine Reichweite aufgebaut, die der Tagesschau entsprechen soll. Auch Julius van den Laar hielt auf der SMX 2013 einen grandiosen Vortrag darüber, wie er zusammen mit anderen im Wahlkampfteam von Barak Obama durch die Nutzung von Big-Data-Methoden und Facebook die Wahl entscheidend beeinflussen konnte (Website Boosting, Ausgabe 19). Dabei ging es in keiner Weise um das Verbreiten sog. Fake News, sondern um das gezielte Versorgen potenzieller Wähler mit Informationen, auf die sie wahrscheinlich ansprechen würden. Und natürlich darum, potenzielle Anhänger von Obama für die Wahl zu mobilisieren. Nichts wurde dabei dem Zufall überlassen.  

Mittlerweile sorgte Facebook bereits unweit des Regierungssitzes in Berlin für Präsenz und dort berät man auch Politiker in Sachen Wahlkampf. Bereits seit einigen Jahren hält man für Politiker einen 22-seitigen Leitfaden bereit. Selbst die bayerische SPD bietet ihn auf ihren Seiten zum Download an (http://einfach.st/spdfacebook). Auch die Grünen setzten Facebook schon im Bezahlmodus bei der letzten Europawahl im Wahlkampf ein. Dagegen ist auch rein gar nichts einzuwenden. Der Knackpunkt liegt an einer anderen Stelle, wie noch zu zeigen ist.

Wahrscheinlich sind Sie bereits über den eingangs erwähnten Beitrag „Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt“ gestolpert und haben ihn gelesen. Wenn nicht, sollten Sie das auf jeden Fall nachholen: einfach.st/ca4. Dort wird angedeutet, wie man Donald Trump mit in den politischen Chefsessel der wichtigsten Supermacht der Welt geholfen habe. Auf Nachfragen gibt sich Cambridge Analytica im besten Fall wortkarg, meist wird aber weder kommentiert noch dementiert. Über Facebook und weitere Datenkumulatoren wie Acxicom, Aristortle und andere wurden praktisch über alle Amerikaner Datenpunkte gesammelt und über das sog. Fünf-Faktoren-Modell –auch OCEAN-Modell genannt – (http://einfach.st/big5) Persönlichkeitsprofile erstellt. Dieses Modell bewährte sich tatsächlich bisher in Tausenden wissenschaftlichen Studien und stellt eine sehr seriöse Methode dar.

Durch die Einordnung der Persönlichkeit aufgrund der jeweiligen individuellen Ausprägung der fünf Faktoren lassen sich recht gut Maßnahmen ableiten, wie man die entsprechende Person ansprechen muss, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und ggf. ihre Überzeugung zu beeinflussen. Genauer gesagt kann man ein Argument so zuschneiden oder generieren, dass es optimal passt. Dies tut Cambridge Analytica. 

Selbst- vs. Fremdaufklärung

Während wir alle wohl früher etwas passiver bei der Auswahl und der Konsumierung von (Wahl-)Informationen waren, können wir uns heute aktiv und selbstbestimmt damit versorgen. Doch wie stark werden wir von unseren sog. Filterblasen beeinflusst? Bildet sich gerade in sozialen Medien um uns herum eine „herrschende“ Meinung und Andersdenken wird zunehmend weggefiltert oder nicht mehr so stark wahrgenommen? Sucht unser Gehirn nicht immer lieber Informationen, die unser Weltbild und unsere Einstellungen stützen, statt sie ins Wanken zu bringen? Wer Facebook intensiver nutzt, kann sicher ein Lied davon singen. Auch von der Unbelehrbarkeit der jeweils Andersdenkenden. Hier liegt durchaus eine drohende Gefahr für unser Bemühen, die Welt zu verstehen und uns unsere eigene Meinung zu bilden. Verstärken wir diese durch soziale Medien oft eher, als kritisch nachzudenken?

Wer hat die Deutungshoheit?

Auch hier veränderte sich mit dem breiten Einzug der sozialen Netzwerke einiges. Früher lag die Deutungshoheit über das Geschehen, vor allem das politische, bei großen Medien wie Fernsehen, Tageszeitungen und Magazinen. Benahm sich ein Politiker daneben, gab es entsprechende Schelte und Aufklärung. Benahm er sich zu stark daneben, war der einheitliche Aufschrei oft so groß, dass ein Rücktritt unvermeidbar war. Wie kann man nur!

Das mag man gut oder schlecht finden. Was es im Gegensatz zu heute eben nicht gab, waren die „alternativen Fakten“, die nun sogar schon Präsidenten bemühen, um sich die Wahrheit zurechtzubiegen. Das wäre ohne soziale Netzwerke früher sicher niemals möglich gewesen, weil niemand den Unsinn gedruckt oder gesendet hätte. Und wenn, dann mit einem entsprechenden Kommentar. Heute stellen wir fest, dass die Anhänger einer Person oder politischen Richtung sich gegenseitig beliebige Rechtfertigungen für durchaus oft unredliches oder unethisches Verhalten geben und sich damit bestens fühlen. Und schreiben die „alten“ Medien etwas anderes, lügen sie eben. Somit kann man sich den sogenannten inneren Frieden, die eigene Einstellung sehr viel leichter bewahren. Es gibt genügend Menschen in der eigenen Filterblase, die ebenfalls zustimmen. Man spürt, dass man nicht mehr alleine dasteht – die eigene Meinung kann bleiben und muss nicht geändert werden. Wie bei Fußballfans bestimmter Vereine bauen sich geradezu echte Feindbilder auf. Im Kreis Gleichgesinnter findet oft ein regelrechtes Meinungsboosting statt.

Wer sich schon mal näher damit beschäftigt hat, wie soziale Systeme funktionieren, ist sicherlich zwangsweise auf Niklas Luhmann gestoßen. Er kann sicherlich zu den großartigsten deutschen Soziologen gezählt werden und hat schon lange vor dem Auftauchen des Internets erklärt, dass Menschen nach Gruppenzugehörigkeit streben und diese durch einheitliche Gruppensignale deutlich verstärkt werden. „Einheit durch Differenz“ war hier sein Stichwort. Das klingt im ersten Moment irritierend. Es beschreibt den Sachverhalt, dass der innere Zusammenhalt eine Gruppe umso mehr wächst, je stärker sich diese von anderen in bestimmten Merkmalen abgrenzt (Meinung, Kleidung, Sprache, Verhalten usw.). Im Gegenteil entsteht ein fester Zusammenhalt dadurch erst sogar. Und diese „neuen“ Filterblasen zahlen natürlich stark auf solche selbstreferenziellen Systeme ein. Der Stammtisch ist plötzlich weltweit und weder an Orte, noch an Zeiten gebunden.

Filterblasen und ihre (selbstreferenziellen Teilnehmer) begünstigen zudem das Teilen ganz enorm. Die User nehmen quasi freiwillig ein weiteres Microtargeting vor, indem Botschaften, die der Gruppensicht auf die Welt entsprechen, praktisch automatisch an Gleichdenkende weitergeleitet werden. Dazu muss noch nicht mal gelogen oder gefakt werden. Es reicht, die Leistungen des jeweiligen Favoriten gut dastehen zu lassen. Auch das stärkt den Zusammenhalt und macht gegen Kritik. ob berechtigt oder nicht, immun. Es entstehen kleine und große Lauffeuer.

Hilft mehr „Medienkompetenz“

Sofort wird als Medizin allerorten der Ruf nach mehr Medienkompetenz laut. Man müsse jetzt halt schon in der Schule erklären, wie soziale Medien funktionieren und dass man nicht alles glauben darf, was da steht. Die Chance, dass dieses Gegenmittel greift, ist allerdings meiner Ansicht nach aus vielen Gründen nicht besonders hoch. Der gewichtigste Grund mag vielleicht sein, dass wir alle in dem Wissen aufwuchsen, dass man Werbesprüchen nicht glauben oder trauen soll. Und was tun wir? Täglich fallen wir darauf rein – oft sogar mehrmals pro Tag. Dass Wissen, dass nicht alle Informationen valide sind, hilft in den seltensten Fällen, sich gegen (subtile!) Beeinflussungen bewusst zu wehren. Dafür wurde unser Gehirn durch die bisherige Evolution nicht „konstruiert“. Zudem ist es zutiefst menschlich, sich eher Informationen zuzuwenden, die das eigene Bild stützen.   

Wahlkampf mit Marketingalgorithmen?

Wie macht man also als Partei Wahlkampf? Man informiert seine Wähler eben auch über soziale Medien. Und man kann die Werbebotschaften natürlich, wie oben erwähnt, individuell(er) anpassen. Ein Beispiel: Die SPD könnte Botschaften wie „mehr Umverteilung, mehr Steuern für Reiche“ gezielt an Personen mit niedrigem oder gar keinem aktiven Einkommen, Interesse an Gewerkschaften und anderen passenden Merkmalen ausspielen. Und bei Bedarf sogar nur in bestimmten Wohnregionen mit hoher Wohndichte. Bei besser verdienenden Anhängern wäre eine solche Botschaft vielleicht nicht so ideal für die Überzeugungsarbeit, sodass man dieser Wählergruppe eine andere Auswahl an Wahlversprechen senden könnte. Die CDU würde vielleicht genau entgegengesetzt argumentieren – lassen? Die Beispiele sind natürlich rein fiktiv und sollen nur zeigen, dass wir sicherlich auch in der Politik irgendwann wegkommen von der einen universellen Botschaft. Warum? Weil die individuelle Kommunikation besser funktioniert. Und wenn uns die Vergangenheit eines gelehrt hat, dann, dass Dinge, die besser funktionieren, immer die vorherigen aushebeln werden. Marco Buschmann von der FDP meinte kürzlich in der Wired, dass kein Knopf existiere, mit dem man den Wähler zur Marionette der eigenen Interessen machen könne. Ob er den Kern der anstehenden Herausforderung für die Gesellschaft wohl wirklich richtig verstanden hat? Macht es Sinn, die genannten Beeinflussungsmöglichkeiten, beruhigend wirken wollend, mit dem stark übertriebenen Bild eines Zombiewählers abzutun?

Ethik vs. skrupellos

Wahrscheinlich müssen wir uns über die sog. etablierten Parteien keine Sorgen machen. Keine von ihnen würde sich wohl gerne dabei erwischen lassen, in den großen Datentopf des Profiling gegriffen und aktiv eine Wahl beeinflusst zu haben. Und sie werden wahrscheinlich auch einer gewissen Ethik folgend keine bewussten Lügen über andere streuen. Aber wo ist die Grenze und wie stabil ist diese im Lauf der Jahre? Wenn es in Zukunft im Marketing völlig normal sein wird, exzessives Profiling zu betreiben? Wenn es gar notwendig geworden sein wird, weil man nur noch so mit anderen, die es tun, gleichziehen kann? Und welche Macht hätte die subtile Beeinflussung erst in den Händen skrupelloser Politiker und Parteien, denen Ethik eher als ein lästiges Fremdwort erscheint? 

Die USA, die Türkei, Russland, Ungarn und einige andere Länder zeigen gerade, dass Dinge Mehrheiten finden, die man vor einigen Jahren noch nicht mal in einem schlechten Roman für glaubwürdig gehalten hätte. Wohlgemerkt: Nicht die sozialen Medien brachten Menschen dazu, bestimmte Personen zu wählen. Sie gaben ihnen eine Plattform, in der man sich über lokale Grenzen hinweg fand. Und wer es versteht, geschickt in die Streams einzugreifen, sich einzuklinken, der kann Strömungen durchaus einen deutlichen Schub verleihen.

Die Demokratisierung der Produktionsmittel

Das Web 2.0 ermöglicht Massenkommunikation für jedermann. Jeder kann zum Sender zu werden. Man kann sich eine eigene Welt erschaffen, und wer die gut findet, folgt ihr und macht es sich darin bequem. Automatische Filtersysteme sorgen dann wie erwähnt dafür, dass die eigene Meinung so bleiben kann und darf. Und dass sie sich völlig kostenlos weiterverbreitet und weitere Anhänger einsammelt. Das ist gut. Und das ist schlecht. Wir können es uns es eben nicht aussuchen, wer wie „produziert“. Und selbst wenn Nazis sich für ihre braunen Parolen zusammenrufen, ist man relativ machtlos, wie bekanntlich viele derartige Fälle zeigten.   

„Es geht nicht darum, Wähler umzustimmen, sondern potenzielle Wähler gezielt zu ‚motivieren‘.“

Als Prinzip könnte eine „böse“ Manipulation so funktionieren, dass man gezielt Informationen für bestimmte Gruppen in soziale Medien einstreut. Je granularer, desto besser. Daran ist an sich noch nichts Verwerfliches – jedenfalls nicht mehr, als es die üblichen Wahlkampfversprechen sind, die hinterher mit einem schwer unterdrückbaren Lächeln doch nicht eingehalten werden – was meist wohl auch nie so geplant war.

Selbst der je nach Politikrichtung erfolgende Aufschrei, Partei X manipuliere über die Plattform Y, könnte künftig bei den Anhängern der Partei X ins Leere laufen, weil er dort im Zweifel gar nicht mehr ankommt. Den besten Beweis für dieses neue „Mir doch egal“ erkennen wir doch gerade in den USA. Der Präsident meint an einem Tag, die EU wäre „great“, an nächsten ist sie eine überkommene Institution. Alternative Fakten? Kein Problem. Seine Anhänger interessiert es offenbar in keiner Weise, wie „ihr“ Präsident in der Welt ankommt. Man schafft sich seine eigene Welt, in der andere zu bösen, manipulativen oder gar Fakelügnern deklariert werden. Wenn das alle in der eigenen Blase tun, fällt es sehr leicht, das zu glauben. Noch mal: Das ist nun wirklich ein wesentlicher Unterschied zu früher – wo das Meinungseinigeln allenfalls zu viert beim Karteln am Stammtisch funktionierte. Die Reichweite war dabei extrem begrenzt, das „Teilen“ ebenso.

Und nun?

Schwere Frage. Ist die Demokratie in Gefahr? Oder anders formuliert: Merken die latent Unzufriedenen, die gerne etwas am System ändern würden, nun deutlicher, wie viele sie vielleicht in Wirklichkeit sind? Traut man sich dann –jetzt – plötzlich Dinge zu sagen oder zu vertreten, die man früher lieber für sich behalten und geschwiegen hätte?

Wer übernimmt eigentlich die Haftung für das Treiben automatisierter und mit großen Profilingdatenbanken verbundener Chatbots, bei denen man nicht feststellen kann, wer sie ins Netz gehievt hat?

Und was passiert, wenn sich Anheizer und Zündler finden, die ohne moralische Bedenken und mit finanziellen Mitteln ausgestattet alle Register der Beeinflussungsmöglichkeiten über soziales Profiling ausnutzen? Viele Social-Media-Experten meldeten sich mittlerweile zu Wort und meinen, eine derartige Wahlbeeinflussung wäre in Deutschland jedenfalls so nicht möglich. Das mag durchaus stimmen, denn die viel restriktiveren Datenschutzgesetze schieben vielem einen Riegel vor. Und wer sich daran hält, hat es beim Sammeln und Auswerten natürlich deutlich schwerer. Aber ob das wohl auch zukünftig so bleiben wird? Zumal es derzeit so aussieht, dass gerade Staaten massive Begehrlichkeiten in Richtung „Bürgerdaten“ entwickeln. Selbstverständlich dient dies alles nur der Terrorabwehr. Heißt es. Steve Bannon, der arg umstrittene Chefstratege des Weißen Hauses mit Sitz im Nationalen Sicherheitsrat, hat laut Wikipedia übrigens einen Sitz im Kontrollgremium von Cambridge Analytica. Und der deutschstämmige Milliardär Peter Thiel ist maßgeblich an dem Big-Data-Unternehmen Palantier beteiligt, das u. a. von der CIA mitfinanziert wird, weil man dort die Daten bestens nutzen kann. Thiel unterstützte bekanntlich mit Millionenspenden Trumps Wahlkampf und scheint ein großer Fan von ihm zu sein. Ach ja: Thiel hat auch einen Sitz im Aufsichtsrat bei Facebook. Das muss aber alles gar nichts bedeuten.  

Folgendes sollten wir vielleicht doch im Kopf behalten: Die professionelle Auswertung von nur zehn Likes bei Facebook erlaubt es, eine Person besser zu klassifizieren, als dies Arbeitskollegen können. Ab 70 Likes weiß man mehr als gute Freunde der Person und ab 150 sogar mehr als Familienmitglieder. Um mehr über Sie zu wissen als Ihr Lebenspartner, braucht es etwas über 300 Likes. Hand aufs Herz: Wie viele Likes haben Sie in Facebook, falls Sie dort aktiv sind, schon verklickt? Und falls Sie noch Luft für Likes haben, markieren Sie unbedingt Spiralpommes mit einem „Gefällt mir“. Das lässt Sie bei automatischen Korrelationsanalysen deutlich intelligenter erscheinen. Kein Witz.

Was meinen Sie dazu? Müssen wir uns Gedanken machen, was Politik langfristig mit den Methoden anfängt, die das immer weiter nach vorn strebende Marketing ihr als „Abfallprodukt“ an die Hand gibt? Oder werden politische Begehrlichkeiten am Ende irgendwann sogar der Technologietreiber sein?

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