Heuristiken in der Conversion-Optimierung –

die Wissenschaft hinter irrationalem Handeln (Teil 5)

Tobias Aubele
Tobias Aubele

Dr. Tobias Aubele ist Professor für E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und Berater für Webcontrolling (u. a. „Deutschlands bester Conversion Optimierer 2018“ sowie „CRO Practitioner of the year 2020“). Er lehrt das Themenumfeld Conversion-Optimierung, Usability und Webanalytics im Studiengang E-Commerce. Zuvor war er viele Jahre in einem internationalen Multi-Channel-Unternehmen in diversen Führungspositionen tätig, zuletzt als Bereichsleiter E-Commerce.

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Im Marketing werden diverse Strategien eingesetzt, um die Zielgruppen zu erreichen und eine Reaktion bei ihnen hervorzurufen. Im Idealfall folgen sie dem Kampagnenziel und sagen „Ja“ zur Botschaft. Timing in der Ansprache und Einsatz psychologischer Prinzipien (kognitive Verzerrungen) sind dabei elementare Erfolgsfaktoren der Kampagne. Aussagen wie „Dafür steh ich mit meinem Namen“ oder „Millionen von Frauen vertrauen …“ sind in diesem Zusammenhang bedeutsame Entscheidungskriterien und unterstützen Menschen in ihrem zielgerichteten Handeln. Erforscht seit mehreren Jahrzehnten, werden Cialdinis Grundprinzipien der Überzeugung im Offline- und Online-Marketing Erfolg versprechend eingesetzt. Überraschenderweise kam durch aktuelle Forschungsarbeit ein bis dato unerkanntes Prinzip – Unity – hinzu. Doch was verbirgt sich dahinter und wie kann dieser Faktor im Zusammenspiel mit den sechs bekannten Prinzipien eingesetzt werden?

Die Irrationalität menschlichen Verhaltens wurde in den letzten Jahren kontinuierlich erforscht. Von großer Bewandtnis sind die Erkenntnisse von Daniel Kahneman („Schnelles Denken, langsames Denken“), Dan Ariely („Denken hilft, nützt aber nichts“), Richard Thaler („Nudge“) sowie Robert Cialdini („Influence“). Gerade die sechs universellen Prinzipien von Cialdini finden sowohl in der Offline- als auch in der Online-Welt nach wie vor große Anerkennung. Nach über 30 Jahren (!) erschien kürzlich sein weiterführendes Buch „Pre-Suasion: A Revolutionary Way to Influence and Persuade“ (bis dato nur in englischer Sprache) mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und einem siebten Prinzip – Unity. Kurz gefasst besitzen die bestehenden sechs Prinzipien folgende Eigenschaften:

1. Reziprozität

Ein kostenloses Angebot bzw. Geschenk, im Idealfall unerwartet und bedeutsam, führt zu einer „Schuld“ beim Empfänger, welche in einer Form zurückbezahlt bzw. (über-)kompensiert werden möchte. Sofern eine Personalisierung stattfindet, kann dies den Effekt weiter verstärken. Dieser Mechanismus des Revanchierens ist kulturübergreifend tief im menschlichen Handeln verankert. Offline wird dieses Prinzip u. a. in Form von Produkt-/Kostproben beim Betreten des Geschäfts eingesetzt bzw. mittels Gratisgeschenken bei der Teilnahme an Shoppingabenden. Online wird die Wirksamkeit dieses Prinzips durch Gratisartikel, Testzugänge, kostenlose E-Books etc. gefördert (siehe. Abb. 1).

2. Soziale Bewährtheit (Social Proof)

John Lennon sang bereits „But I`m not the only one“ in seinem Hit „Imagine“ und zeigte dabei den Kern des Prinzips der sozialen Bewährtheit: Menschen sind Herdentiere und halten das eigene Verhalten, Denken und Fühlen für angebracht, wenn andere Personen in vergleichbaren Situationen es ebenfalls zeigen. Offline werden verstärkt das „beliebteste“ Gericht aus der Speisekarte bestellt oder die Top-10-Bücher der Bestsellerliste gekauft. Online zielen insbesondere (Produkt-)Bewertungen bzw. kommunizierte, sehr hohe Nutzungszahlen von Anwendungen auf dieses Prinzip ab – die Masse kann sich nicht irren.

3. Verknappung

Menschen wollen mehr von dem, was sie weniger haben können. Ist von der gewünschten Ritter-Sport-Einhornschokolade nur noch eine Tafel verfügbar, steigt der Drang, diese zu ergattern. Der Preis wird dabei zur Nebensache. Es geht generell darum, ein (vermeintlich) knappes Gut unbedingt zu bekommen. Offline wird dies bspw. durch Sondereditionen bzw. zeitlich befristete Verfügbarkeit umgesetzt (siehe Abb. 2), online etwa durch Anzeige abnehmender Lagerbestände bzw. Counter hinsichtlich der Bestellzeit (nur noch binnen 58 Sekunden bestellbar) oder Zugriff nur für einen limitierten Personenkreis.

4. Autorität

„The messenger is the message“ – Experten beeinflussen Entscheidungen durch den ihnen zugeschriebenen Status bzw. ihr Fachwissen. Insbesondere bei Unsicherheit greifen Menschen auf Einschätzungen und Ratschläge von Spezialisten zurück. Je vertrauensvoller und glaubwürdiger die Person, desto stärker die mögliche Beeinflussung. Offline werden Apotheker und Ärzte mit weißen Labormänteln als äußeres Zeichen mit Fachkenntnis bzw. Autorität in Verbindung gebracht. Online werden neben Testimonials zusätzlich Trustelemente wie Siegel und Auszeichnungen/Preise („Testsieger bei Stiftung Warentest“) in der Angebotskommunikation eingesetzt.

5. Sympathie (Liking)

„We like those who are like us“ – je ähnlicher sich Menschen empfinden, desto sympathischer wirken sie. Ähnlichkeit bezieht sich nicht nur auf Verhalten und Aussehen, sondern auch auf die Sprache (Wortwahl) sowie Gemeinsamkeit hinsichtlich des Lieblingsteams. Neben Attraktivität als weiterem Indikator für Sympathie sind es insbesondere Komplimente, welche einen großen Einfluss auf andere Personen haben. Gemeinsamkeiten und Komplimente von anderen Menschen bewirken das Gefühl des „Gernhabens“ (Liking) und damit letztlich Vertrauens zueinander. Auch im Online-Handel kann eine Entscheidung des Nutzers mit Lob/Anerkennung versehen werden und bestärkend in der Nutzersprache vonstattengehen (siehe Abb. 3). Zusätzlich sind die „Über-uns“-Seiten einer Website ein idealer Anknüpfungspunkt, um den potenziellen Kunden zu zeigen, dass die Menschen hinter der Marke sympathisch, authentisch sind und sich bspw. mit dem Produkt zu 100 % identifizieren. Offline ist es die Verkaufsperson, die die Wortwahl des potenziellen Kunden widerspiegelt und durch das authentische Übermitteln von Komplimenten die Sympathie des Käufers erwirbt.

Commitment und Konsistenz

Menschen wollen in Einklang/Konsistenz mit vorherigen Aussagen/Aktionen/Taten sein bzw. konsistent wahrgenommen werden. Sofern ein kleines Commitment bzw. Zugeständnis eingegangen wurde, folgt im Normalfall dessen konsequente Verfolgung, auch auf einem höheren Level bzw. in einer größeren Ausprägung. Laut Cialdini kann die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person zu einem Termin (Meeting, Reservierung) kommt, deutlich gesteigert werden, wenn anstelle der mündlichen Bestätigung „Wir haben Sie als Teilnehmer registriert, danke“ die Zusage aktiv durch den Teilnehmer bestätigt und damit bekräftigt wird: „Wir haben Sie als Teilnehmer registriert, o. k.? (Pause für Bestätigung des Teilnehmers.) Danke.“ Auf Webseiten kann ebenfalls ein erstes Commitment im Prozess abgefragt werden, welches die Wahrscheinlichkeit der Konsistenz im weiteren Verhalten fördert (siehe Abb. 4). Weitere Möglichkeiten ergeben sich online durch die Aufteilung eines komplexen Prozesses in einzelne Schritte, bei dessen Design darauf geachtet wird, dass im ersten Schritt eine einfache Zustimmung ermöglicht wird (bzw. einfachere Inhalte abgefragt werden) und Komplexeres in nachgelagerte Schritte verschoben wird.

Zu welchem Zeitpunkt ist welches Prinzip am effektivsten?

Das Besondere an Cialdinis neuem Buch spiegelt sich im Titel wider – wie können Menschen beeinflusst werden, bevor eine Persuasion-Technik angewendet wird. Hier bezieht er sich u. a. auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt in der Kundenbeziehung welches dieser sechs Prinzipien von größtem Vorteil ist. Das Timing ist nach dem „core motives model of social influence“ von Gregory Neidert gemäß folgendem Einsatz am erfolgversprechendsten:

Die erste Phase der (potenziellen) Kundenbeziehung bzw. des Kaufprozesses ist dadurch gekennzeichnet, dass es um die Schaffung einer positiven Basis zwischen den Parteien geht. Hierfür eignet sich insbesondere das Prinzip der Reziprozität und Sympathie. In der zweiten Phase geht es um die Reduzierung von Unsicherheit, die (Kauf-)Entscheidung soll sich als klug herausstellen und letztlich kognitive Dissonanz vermieden werden. Daher bietet die Nutzung des Prinzips der sozialen Bewährtheit sowie der Autorität eine herausragende Ausgangsbasis für den Übergang in die dritte Phase, die Motivation in Richtung des Zieles. An diesem entscheidenden Punkt im Prozess ist sowohl ein „Erinnern“ an bestehendes bzw. „Ermutigen“ zu neuem Commitment sehr sinnvoll. Eine zeitliche und/oder mengenmäßige Verknappung kann zusätzlich den Drang in Richtung des Abschlusses forcieren.

Die große Wirkung sozialer Einflüsse

Psychologen wie Icek Ajzen und Martin Fishbein haben bereits in den 1970ern damit begonnen, menschliches Verhalten bzw. die Verhaltensintention näher zu erforschen. Gemäß ihrer „Theorie des geplanten Verhaltens“ (Theory of planned behaviour) ergibt sich das Verhalten von Individuen aus der Absicht, dieses Verhalten auszuüben. Die Absicht wiederum ist das Ergebnis aus drei Komponenten: 1. der Einstellung der Person (persönlicher Faktor) in Richtung des Verhaltens, 2. von sozialen Einflüssen (von Mitmenschen; von außen einwirkender Faktor) sowie 3. der „wahrgenommenen Verhaltenskontrolle“, d. h. der Überzeugung von Individuen, wie einfach oder schwierig sich die Umsetzung eines zuvor geplanten Verhalten gestalten wird. Der soziale Einfluss (bedeutungsvoller) Mitmenschen ist damit ein existenzieller Faktor im menschlichen Verhalten. Obwohl die Theory of planned behaviour vom Grundsatz sehr kognitionslastig ist, stehen diese Erkenntnisse in Einklang mit dem siebten Prinzip von Cialdini – Unity.

Unity – geteilte Identitäten

Unter Unity versteht Cialdini das Empfinden über geteilte Identitäten – das Wir-Gefühl („we is the shared me“). Die eigene Familie ist dabei in großem Umfang von der Verhaltensbeeinflussung betroffen, da mit dieser Gruppe höchstwahrscheinlich die größte Identität besteht – Mütter und Väter würden sehr viel für ihre Kinder tun und vice versa. Cialdini testete den Einfluss der Familie durch einen Fragebogen, dessen Ausfüllen durch die Eltern des jeweiligen Studenten im nächsten benoteten Test zu einem Sonderpunkt führte. Nahmen bislang nur ca. 20 % der Eltern an Umfragen teil, so waren dies in diesem Test verblüffende 97 % (für einmalig einen Punkt in einem von vielen Tests in einem von vielen Semestern)! Obwohl für die Eltern kein direkter Vorteil vorhanden war, nahmen sie dennoch an dieser Umfrage teil. Roger Dooley (Autor von Brainfluence) leitet daraus einen weiteren potenziellen Erfolgshebel im Marketing ab, nämlich dass die Aussicht auf etwas Kostenloses (bspw. Artikel) verstärkt werden könnte, wenn es nicht der Käufer direkt bekäme, sondern dies den Eltern, dem Kind oder Partner (dem direkten sozialen Umfeld) zugutekäme.

Zusätzlich kann das Prinzip der sozialen Bewährtheit mit Unity spezifiziert bzw. verstärkt werden. Sofern ein Filter für die jeweilige Referenzgruppe zur Verfügung gestellt wird (bspw. die aktuelle Lebenssituation einem jungen Paar entspräche), kann die Relevanz der Bewertungen forciert werden (siehe Abb. 5).

Co-Creation – gemeinsam etwas erreichen

Die Abgrenzung von Unity zum Sympathie-Prinzip (Liking) besteht darin, dass es tiefer greift. Es geht nicht mehr „nur“ um Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten mit anderen, sondern um eine gemeinsame Basis bzw. Identität und damit ein gemeinsames (Gruppen-)Gefühl: „The experience of unity is not about simple similarities (although those can work too, but to a lesser degree, via the liking principle). It’s about shared identitied“; Cialdini). Unity wirkt dabei nicht nur im Zusammenspiel mit Familien, sondern auch bei anderen für die Person relevanten Gruppen, welche Identitäten teilen, wie bspw. politische Präferenz, Religion oder geografischen Bezug. Entsprechende Webseiten könnten demnach die Nutzeransprache anpassen und die Besucher zum Teil der Gruppe machen: „Als schlauer Schwabe können Sie alles außer Hochdeutsch – welchen Ratschlag zur Altersabsicherung würden Sie Ihren Kindern geben?“ Zusätzlich entsteht das Wir-Gefühl durch Zusammenarbeit bzw. Schaffung von etwas Gemeinsamem. Der IKEA-Effekt, welcher besagt, dass selbst zusammengebaute Güter subjektiv deutlich höherwertig eingeschätzt werden („see their amateurish creations as similar in value to experts´ creations“; Cialdini), ist bereits ein erfolgreiches Beispiel von Co-Creation zwischen Nutzer und Verkäufer und kann online bspw. in Form von Konfiguratoren eingesetzt werden. Das bedeutet im Zusammenhang mit Unity, dass durch die Zusammenarbeit bzw. aktive Beteiligung anderer, der Co-Creation, eine positive Affinität zwischen den Partnern entsteht (arbeiten „Hand in Hand“). Das heißt, es könnte sinnvoll sein und zu einem positiven Effekt in der Beeinflussung menschlichen Verhaltens führen, Personen (virtuell) einzubeziehen, bspw. durch aktive Abfrage nach einem Ratschlag, und damit gemeinsam an einer Problemlösung zu arbeiten.

Fazit: Das neue Buch von Robert Cialdini hat nicht nur die bestehenden Prinzipien bestärkt bzw. in eine sinnvolle Ordnung innerhalb des Kaufzyklus gebracht (Timing), sondern mit Unity ein weiteres wirksames Prinzip geschaffen, welches eine Fokussierung der Nutzeransprache und Informationspräsentation als nützlich erscheinen lässt. Eingebettet in das soziale Umfeld (textueller Natur bzw. in Bildern) können Marketingkampagnen durch die forcierten Beziehungen zu Personen in der Effizienz höchstwahrscheinlich gesteigert werden. Die Bereitschaft zu einem „Ja“ in der Angebotskommunikation, was sich letztlich in höheren Interaktionsraten zeigt, ist damit gegeben.

In diesem Sinne: Lassen Sie die sieben Prinzipien in Ihre Testhypothesen entlang der (potenziellen) Kundenbeziehung einfließen, sie bieten enormes Potenzial zur Verbesserung der Konversionsraten!