Mein Jakobsweg von innen (Teil 2)

Marco Janck
Marco Janck

Marco Janck ist CEO des SUMAGO Networks und seit über 20 Jahren im Bereich Online-Marketing unterwegs. Er ist Kopf hinter der SEO-Agentur SUMAGO, der Event-Reihe CAMPIXX und dem Motion Graphics Studio Wylder. Aktuell beschäftigt er sich mit virtuellen 360° Räumen als Alternative und/oder Ergänzung zu normalen Websites.

Mehr von diesem AutorArtikel als PDF laden

In der letzten Ausgabe berichtete Online-Marketer Marco Janck über seine Content-Marketing-Erfahrungen auf dem Jakobsweg. In einigen Leserbriefen wurde Website Boosting gebeten, er solle neben der Marketingansicht doch auch noch etwas zur menschlichen Komponente schreiben. Wir fragten ihn und er lieferte diesen nun folgenden „menschlichen“ und eher persönlichen Teil gerne noch nach. Die vielen Nachfragen waren für ihn, so sagte er der Redaktion, eine sehr schöne Erfahrung, da er in der Regel häufig von Menschen umgeben ist, die mehr auf Skalierung und Daten achten.

Ich weiß nicht, wie ihr mit ungewöhnlichen Dingen umgeht. Wenn mir Menschen erklären, dass sie etwas Besonderes erlebt hätten, werde ich neugierig. Mich interessiert dieses Besondere. Diese Momente, die es im Alltag nicht gibt. Die Lebensteile, die einem sonst verborgen bleiben. Ich habe das Bedürfnis, zu erkennen oder zu verstehen, wie Sachen funktionieren und ablaufen. Nicht allgemein, sondern bei mir.

Me, myself and I

Der Jakobsweg war für mich eine sehr persönliche Sache. Es ging mir nicht darum, eine Begegnung mit Gott oder so zu haben. Mir reichte es, mich selbst irgendwie besser zu entdecken. Ich glaube, dass es im Leben wichtig ist, seine Grenzen zu erkennen, und dazu muss man sie finden. Das schafft man in der Regel nur durch Provokation. Raus aus der Komfortzone und rein in das Unbekannte, so wie man es noch nie erlebt hat. Hat ein wenig etwas von Raumschiff Enterprise und die Entdeckung neuer Welten, halt nur in einem selbst. Was ist das, was die anderen Pilger beschrieben haben, und wie werde ich es erleben und spüren? Am Ende ganz klar auch die Frage, wie es mich langfristig verändern wird.

Die Familie

Ich bin 47 Jahre alt, verheiratet und habe einen 16 Jahre alten Sohn. Bislang haben wir die letzten 20 Jahre so gut wie alles als Familie unternommen. Auch als Ausgleich für die viele Zeit, die ich mit der Arbeit in und an der Agentur verbracht habe. Der Jakobsweg war für mich eine Möglichkeit, mal wieder ganz für mich zu sein. Ich und mein Ego. Ich und mein doch nicht untergewichtiger Elite-Körper. Ich, ich, ich. Nicht nur für mich war der Weg neu. Auch meine Familie schluckte und belächelte zunächst meinen Wunsch. Das war aber nur ein kurzer Moment. Unbekannte Begebenheiten machen Menschen unsicher. Ganz normal. Zwei Schritte vor, einen zurück, und du bist weitergekommen. Alles easy.

Der Start

In der ganzen Vorbereitung riskierte ich eine dicke Lippe. Die Tatsache, dass der Weg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fürchterlich wehtun würde, verdrängte ich extrem professionell. Doch das ganze Verdrängen hatte sein Ende, als ich am ersten Abend in Barcelona ankam. Dort hatte ich das erste Mal das Gefühl, wirklich alleine zu sein. Ich würde euch anlügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre unbeeindruckt gewesen. Es fühlte sich schon extrem ungewohnt an und ich hatte, das Gefühl jetzt nicht mehr zurückzukönnen. Das stimmt zwar nicht, jedoch hatte ich mir durch die Social-Media-Ankündigungen das Hintertürchen selber zugehauen. Eigentlich ganz gut so. Am zweiten Tag stand ich dann in Leon und machte mich fachmännisch durchgestylt auf den Weg in mein Hotel. Zehn Kilometer im Regen. Ich hatte megagute Laune. Ich würde fast behaupten, dass ich ein wenig euphorisch war. Zehn Kilometer und Regen. Das machte mir nichts aus. Das muss halt so.

Der Weg

Der erste echte Tag auf dem Jakobsweg hatte es gleich in sich. Ich lernte, dass die Google-Maps-Strecke nicht unbedingt die Strecke des ursprünglichen Jakobswegs sein muss. So wurden aus 32 Kilometern dann 37 Kilometer. Ich würde euch anlügen, wenn ich behaupten würde, dass die Euphorie noch vorhanden war. Schon auf den ersten Kilometern traf ich andere Pilger. Welche, die bestimmt schon deutlich länger unterwegs waren als ich gerade. Was sofort auffiel, war die Tatsache, dass sich alle sehr eigenartig bewegten. Das hatte etwas von Paralympics. Normale Bewegungsabläufe sehen anders aus. Dazu kam ein schmerzverzerrtes Gesicht beim Aufstehen und Hinsetzen. Ich gebe zu, ich machte mich über diese Leute innerlich ein wenig lustig. Gut, dass ich mich knappe 50 Kilometer später nicht selber beobachten musste. Verrückt, wie ein Körper auf ständige Überlastung reagiert. Ich war also ziemlich schnell ein Teil der paralympischen Jakobsbewegung.

Ich nahm das Auskoppeln nicht wahr

Nach meiner persönlichen Überzeugung läuft das Mysteriöse am Jakobsweg ausschließlich über die Überlastung. Dir tut ziemlich schnell alles an deinem Körper unglaublich weh. Noch nie in meinem Leben hatte ich vorher erleben dürfen, dass mein Kohlenhydratspeicher leer war. Wirklich leer. Ich hatte damals keine Ahnung davon, dass nach der Verbrennung von Kohlenhydraten die Fettverbrennung einsetzt. Keine Ahnung davon, dass der Körper dabei Azeton aussondert und man wie irre nach Essig riecht. Ich dachte, ich wäre krank und müsste abbrechen ;-). Ich wusste nicht, dass eine Banane bei mir für 30 Minuten direkte Energie bringt und ich danach wieder zusammenklappe. Eigentlich wusste ich nichts. Genau diese ständige Überlastung führt dazu, dass du extrem kurznervig wirst. Wenn du diesen Punkt erreicht hast, dann hast du es eigentlich geschafft. Es ist also im Kern viel besser, relativ untrainiert auf den Jakobsweg zu gehen, weil man dann früher an diesen besonderen Punkt kommt. Das Verrückte ist, du merkst den Übergang nicht. Ich erwischte mich beim Gehen plötzlich dabei, dass ich im Zusammenspiel mit der für mich richtigen Musik Tränen in den Augen hatte. Die Kombination erzeugte plötzlich ganz neue Erinnerungsmuster in meinem Kopf. Bilder aus meiner Kindheit. Jugenderinnerungen. Schöne und traurige Momente. Alles plötzlich präsent und extrem intensiv. Für mich war das der Moment, an dem ich wusste, es geschieht etwas mit mir. Es fühlte sich ungewohnt an, aber da ich noch schlappe 280 km vor mir hatte, musste ich ja da durch.

In meinen Videos wollte ich genau das zeigen. Ich wollte es nicht schönmauscheln, sondern ich wollte zeigen, wie ich mich fühle. Wenn ihr euch die Videos unter dem Blickwinkel noch einmal anschaut, dann wird es vielleicht klarer. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich die Heulphasen nicht filmte. Ich bin ein Kerl. Es muss Grenzen geben ;-)

Irgendwann läufst du nur noch

Ich lief jeden Tag zwischen 25 und 39 km. Irgendwann funktionierst du nur noch. Völlig reduziert auf das Menschsein. Du bist alleine mit deinen Gedanken und merkst es vor lauter Anstrengung gar nicht. Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer und Minute für Minute. Es gab Momente der Faszination durch wundervolle Landschaften und Momente der Frustration, wenn man einen ganzen Tag lang an der Autobahn läuft und Mittag auf der Autobahnraststätte isst. Ich glaube, dass gerade diese Phase in den Videos sehr gut rauskommt. Ich glaube, ich habe in keinem anderen Video so oft das Wort Scheiße gesagt. Alles gut. Das muss so.

Und Stück für Stück kommst du runter

Wie weit ich mich aus dem normalen System entkoppelt hatte, wurde mir erst am vorletzten Tag bewusst. Ich erhielt Besuch von einem Bekannten auf der Strecke. Ein Moment, der für viele Menschen, die meinen Weg verfolgt hatten, befremdlich war. Warum beendete ich den Weg nicht alleine? Ich kann es euch nicht sagen. Als mein Bekannter fragte, ob es mich stören würde, wenn er mir am vorletzten Tage entgegenkäme, damit wir dann die letzte Etappe gemeinsam gehen, war auch ich hin- und hergerissen. Am Ende sagte ich zu, weil wir ja geplant hatten, Aufnahmen mit einer Drohne zu machen, die er mitbrachte. Gut, es regnete am letzten Tag, sodass dieser Teil ins Wasser fiel. Dennoch entstand durch diese Entscheidung ein sehr wundersamer Moment. Ein Moment der Erleuchtung. Als wir uns an dem Abend das erste Mal begegneten, wurde mir schlagartig bewusst, wie weit ich mich entkoppelt hatte und runtergekommen war. Ich hatte das Gefühl, dass er in einer Tour redete, obwohl das überhaupt nicht der Fall war. Er sprach über die wildesten Sachen des Marketings und verhielt sich im Kern genau so, wie ich es vor meiner Tour gemacht hätte. BÄNG. Da war er. Der Spiegel. Eine wirklich wahnsinnig intensive Erfahrung. Ich war ausgekoppelt. Wirklich weg von dem, was mich sonst so sehr beschäftigt. Online-Marketing nervte mich plötzlich in dieser Schlagzahl irgendwie. Hätte ich vorher nie gedacht.

Die Gemeinschaft

Die intensivste Erfahrung der ganzen Tour war aber mit Sicherheit der Moment des Gottesdienstes in der Kirche von Santiago de Compostella. Mir war dabei das Kirchliche egal, da ich kein sehr gläubiger Mensch bin. In diesem Moment des Gottesdienstes schaute ich mich um und sah viele bekannte Gesichter meiner Wegstrecke wieder. Menschen, mit denen ich nie ein Wort gewechselt, sondern durch Gesten Nettigkeiten ausgetauscht hatte (gerade mit den vielen Asiaten). Es hatte ein wahnsinniges Gefühl von Gemeinschaft. Ein Gefühl, das aber sicherlich in diesem Moment nur diejenigen spüren konnten, die die Strapazen des Weges auf sich genommen hatten. So spaltete sich die Menge in der Kirche in Pilger und Touristen. Erleuchtete und Nicht-Erleuchtete (Quatsch). Mich bewegte es jedenfalls sehr.

Das Fazit für mich persönlich

Der Weg hielt das, was ihm alle zusprechen. Er macht etwas mit dir. Etwas, was man im Grunde nicht direkt beschreiben kann, weil es sehr individuell ist. Er entkoppelt dich aus deinem Alltag. Völlig schleichend und kaum merklich. Er zeigt dir, wie intensiv Menschen verschiedener Kulturen, Nationalitäten und Sprachen zusammenfinden können, wenn sie ein gemeinsames Ziel haben. Er zeigte mir also einen Teil der Zauberformel für das friedliche Miteinander von Menschen. Er entkoppelt dich so sehr aus dem „Kommerz-System“, dass du eine völlig andere Perspektive für die Wichtigkeit vieler Sachen bekommst. Alleine dieser Perspektivwechsel war für mich Gold wert. Irgendwie wurde während der Tour vieles deutlicher wahrnehmbar.

Doch was blieb übrig? Wieder im Alltag

Nach meiner Rückkehr war ich extrem verwundert darüber, wie lange es dauert, wieder normal am Alltag (auch Arbeitsalltag) teilzunehmen. Ich saß noch tagelang in der Firma und hatte das Gefühl, aus zwei Teilen zu bestehen. Dem Körper, der versuchte, wieder den Speed des Alltages anzunehmen, und dem Geist, der diesen Speed einfach nicht mitgehen wollte. Ein irgendwie komisches Gefühl, da ich ja nicht wusste, wie lange dieser Zustand anhalten würde. In dem Zustand funktioniert die Online-Marketing-Welt bei mir nicht. Nach ca. neun Tagen hatte mich das Leben dann wieder. Ich war wieder eingekoppelt, Teil des Systems, und es fühlte sich gut an. Dennoch bleibt die Erfahrung, das System von außen betrachtet zu haben.

Mein Leben hat dieser Weg nicht deutlich verändert. Ich bin jetzt nicht zum Sportler geworden und weit davon entfernt, die Erde verbessern zu können. Im Grunde ist alles wie vorher. Mit dem kleinen Unterschied, um viele kleine Erfahrungen gewachsen zu sein. Immerhin war der Jakobsweg so eindrucksvoll für mich, dass ich zu Ostern mit meinem Sohn (16) den Küstenweg nach Santiago laufen werde. Das wird die Knaller-Vater-Sohn-Erfahrung.

Letzter Satz

Traut euch einfach etwas zu. Geht über eure Grenzen. Traut euch, das Hamsterrad einmal zu verlassen. Dann habt ihr die Chance, eure Welt als Satellit von außen zu betrachten. Das lässt vieles einfach deutlicher und klarer erscheinen. Ich habe keine Ahnung, ob ihr den Spirit aus meinen Worten rauslesen konntet, ich hoffe es aber für euch sehr ;-)