Heuristiken in der Conversion-Optimierung –

die Wissenschaft hinter irrationalem Handeln (Teil 3)

Tobias Aubele
Tobias Aubele

Dr. Tobias Aubele ist Professor für E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und Berater für Webcontrolling (u. a. „Deutschlands bester Conversion Optimierer 2018“ sowie „CRO Practitioner of the year 2020“). Er lehrt das Themenumfeld Conversion-Optimierung, Usability und Webanalytics im Studiengang E-Commerce. Zuvor war er viele Jahre in einem internationalen Multi-Channel-Unternehmen in diversen Führungspositionen tätig, zuletzt als Bereichsleiter E-Commerce.

Mehr von diesem AutorArtikel als PDF laden

No risk, no fun – so motivieren sich manche vor brenzligen Situationen. Dabei ist gerade die Risikovermeidung ein existenzieller Teil der menschlichen Entwicklung. Hätten die Vorfahren in der Steinzeit sehr risikofreudig agiert, wäre die besondere Spezies Mensch wahrscheinlich so nicht existent. Gleichzeitig ist Freude eine der Basisemotionen, welche das Leben und dessen Lauf maßgeblich beeinflusst. Im E-Commerce herrscht eine Einkaufssituation unter Risiko ob des nicht unmittelbaren Leistungsaustausches vor. Deshalb hilft die Beachtung bzw. das Verständnis der Hintergründe von Verlustaversion, um restriktive Reaktionen von Websitebesuchern besser zu verstehen und im Idealfall proaktiv gegensteuern zu können. Neben „Don´t make me think“ sollte es im beim Einkaufsprozess stets „No risk, just fun“ heißen.

Menschliches Verhalten ist einfach genial bzw. genial einfach. Das Handeln wird stark beeinflusst durch Entscheidungen aus einem relativen Kontext, welche risikoscheu vollzogen werden unter tendenzieller Bevorzugung des aktuellen Status quo. Das mag sehr pointiert klingen ob der großen Eigenschaften, welche dem klaren Verstand des Menschen und seinen kognitiven Fähigkeiten zugeschrieben werden. Doch stellen Sie sich folgende Situation vor: Henriette bewirbt sich als Projektleiterin in einem Unternehmen, bei dem sie ein Jahresgehalt von 90.000 € bekommt, was sie entzückt. Obwohl in den Verträgen geregelt ist, dass sie nichts aus ihren Vertragsbestandteilen erzählen darf, kann sie ihren Stolz nicht verbergen und erzählt es vertraulich nach einigen Wochen ihren Kollegen. Sie erfährt dabei, dass die anderen mind. 100.000 € p. a. verdienen.
Die spannende Frage ist, was geschehen wäre, hätte Henriette ein Gehalt von 80.000 € und erführe, dass alle anderen 65.000 € verdienen, sie demnach die bestbezahlte Projektmanagerin ist. Wäre sie voraussichtlich in bei beiden Fällen gleich zufrieden? Wahrscheinlich nicht. Ihre Zufriedenheit über ein Gehalt von 90.000 € würde im Zusammenhang mit einem relativ geringeren Gehalt im Vergleich zu den Kollegen sicherlich getrübt. Obwohl sie in der zweiten Situation mit 80.000 € weniger verdiente, wäre sie höchstwahrscheinlich deutlich zufriedener.

Vergleich und Kontext bestimmen die Handlung

Der relative Bezug spielt demnach in Handlungs- und Entscheidungssituation eine große Rolle und wurde insbesondere von Dan Ariely, Verhaltensökonom und Autor des Bestsellers „Denken hilft zwar, nützt aber nichts“, umfassend erforscht. Die Darstellung von Produktvariationen hilft den Menschen, leichter eine Entscheidung für eine Variation zu treffen, da durch den direkten Vergleich eine implizite Bewertung stattfindet (siehe Abb. 1; die Pakete erfahren durch den direkten Vergleich, aus dem Kontext, ihre Bewertung). Des Weiteren kann eine Variation dadurch eine subjektive Aufwertung erhalten, dass sie im Vergleich zu einer anderen Alternative besonders attraktiv erscheint. Sofern eine Variation ausschließlich dazu dient, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Produkt zu lenken, d. h. als Köder (engl. „decoy“) fungiert, so spricht man vom sogenannten Decoy-Effekt (siehe Huber/Payne/Puto 1982: einfach.st/fuqua).

Risikoaversion und Verlustaversion als überlebenswichtige Faktoren

Neben der Relativität bzw. dem Kontext ist die Risikoaversion des Menschen eine treibende Determinante von Entscheidungen. Kahneman und Tversky führten sehr viele Experimente zum menschlichen Verhalten unter dem Aspekt von Risiko durch (siehe Kahneman, 2014: Schnelles Denken, langsames Denken). Sie konzipierten zwei Situationen, bei denen sich die Menschen jeweils entscheiden mussten:

  1. Zusätzlich zu Ihrem bisherigen Vermögen erhalten Sie 1.000 €. Jetzt sollen Sie sich für eine dieser Optionen entscheiden: eine 50-prozentige Chance, 1.000 € zu gewinnen (bspw. durch Münzwurf) oder 500 € sicher erhalten.
  2. Zusätzlich zu Ihrem bisherigen Vermögen erhalten Sie 2.000 €. Jetzt sollen Sie sich für eine dieser Optionen entscheiden: Eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, 1.000 € zu verlieren (Münzwurf) oder 500 € sicher verlieren.

Im Prinzip sind beide Entscheidungssituationen identisch, da bei Wahl der sicheren Alternative 1.500 € zu Buche stehen und durch Glücksspiel entweder am Ende 1.000 € oder 2.000 € übrig bleiben. Dennoch nimmt bei einer Befragung der große Teil der Personen bei Situation 1 die sichere Option, während bei der zweiten Situation die große Mehrheit das Glück im Spiel sucht. Die Erklärung dieses Verhaltens liefert die neue Erwartungstheorie, welche bildhaft in Abb. 2 dargestellt wird. Diese fußt auf den folgenden drei Merkmalen:

Erstens, dass die Beurteilung auf einem neutralen Referenzpunkt erfolgt. Dies ist bei finanziellen Ergebnissen der Status quo, kann jedoch bspw. für eine erwartete Gehaltserhöhung das erachtete Ergebnis sein. Punkte über dem Referenzpunkt sind Gewinne, unterhalb Verluste.

Zweitens, das Prinzip der abnehmenden Empfindlichkeit (Weber‘sches Gesetz) gilt auch für Vermögensänderungen. Das Weber‘sche Gesetz besagt, dass der wahrgenommene Unterschied zweier Reize sich nicht konstant ändert, sondern vom bestehenden Niveau abhängig ist. Das heißt, die veränderte Helligkeit in einem Raum mit fünf Kerzen zu zehn Kerzen ist wahrnehmbar, die Änderung von 500 zu 505 wahrscheinlich nicht. Folglich ist die subjektive Differenz, d. h. das „Mehr an Freude“ zwischen 100 und 200 € Gewinn größer als die subjektive Differenz zwischen 10.000 € und 10.100 €. Hier spiegelt sich ebenfalls die oben angesprochen Relativität wider.

Letztlich ist die Verlustaversion ein wichtiger Bestandteil menschlichen Verhaltens, d. h., Verluste werden stärker gewichtet als Gewinne. Dies ist evolutionsgeschichtlich bedingt, da Lebewesen höhere Überlebenschancen haben, wenn sie bedrohliche Situationen vermeiden bzw. vorsichtiger agieren.

Die Abb. 2 zeigt den psychologischen Wert von Gewinnen und Verlusten. Der s-förmige Verlauf dokumentiert die abnehmende Empfindlichkeit für Gewinne und Verluste. Das heißt, ein Gewinn von 100 € im Vergleich zu 200 € wird subjektiv deutlicher wertvoller erachtet als eine Steigerung von 10.000 auf 10.100 €. Weiterhin ist die Reaktion auf Verluste stärker als die Reaktion auf Gewinne, daher sind die beiden Kurven des S nicht symmetrisch.
Bezogen auf das obige Beispiel liegt der Referenzpunkt bei Situation 1 um 1.000 € über dem aktuellen Vermögen. Eine Steigerung auf 1.500 € durch die risikolose Variante ist damit ein Gewinn. Bei Situation 2 liegt der Referenzpunkt 2.000 € über dem Vermögen, ein Rückgang auf die sicheren 1.500 € gleicht damit einem Verlust (ergänzende Details siehe Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken).

Chancen der Verlustaversion erkennen und werblich nutzen

Die Erkenntnisse der Erwartungstheorie werden im Marketing aktiv genutzt, insbesondere bei Branchen, bei denen Menschen eine Entscheidung unter Risiko treffen (Versicherungen, Reisen, Risikosportarten etc.). Versicherungen sollen durch die Absicherung von Verlusten ein positives Gefühl stiften. Sie reagieren auf die individuelle Risikobereitschaft und Risikowahrnehmung der Menschen mit entsprechenden Leistungspaketen (siehe Abb. 3; es ergibt sich eine Versorgungslücke von 550 € ohne entsprechende Versicherung). Insbesondere der materielle Verlust wird in diversen Abstufungen mittels Versicherungen auf Dritte verlagert, dafür werden im Gegenzug entsprechende Provisionen bezahlt. In Summe wird für eine kleine Prämie (im Vergleich zum potenziellen Schaden) ein Risiko minimiert bzw. komplett eliminiert. Mittels interaktiver Banner bzw. Grafiken reagieren Unternehmen auf entsprechende Verlustängste bzw. das individuell vorherrschende Risikoempfinden und sorgen damit für die entsprechende Relevanz.

Grundsätzlich kann das individuelle Ausmaß der Verlustaversion abgeschätzt werden, wenn folgendes Experiment betrachtet wird: Sie werfen eine Münze; bei Zahl verlieren Sie 1.000 €, bei Kopf gewinnen Sie 1.200 €. Würden Sie auf dieses Glücksspiel eingehen? Ein rational handelnder Homo oeconomicus würde dies auf jeden Fall tun, da der Erwartungswert positiv ist (Chance auf Gewinn ist 50 %, Gewinn > Verlust). Die meisten Menschen würden dennoch diese Wette ablehnen, da die psychologischen Kosten eines Verlusts (hier 1.000 €) den psychologischen Nutzen eines Gewinns (hier 1.200 €) überwiegen. Was ist damit der niedrigste Gewinn, den ich persönlich brauche, um die 50:50-Wahrscheinlichkeit eines Verlustes auszugleichen? 1.500 € oder gar 2.000 €, d. h. die doppelte Höhe des Verlustes? In Experimenten wurden Raten zwischen 1,5 und 2,5 nachgewiesen, d. h., Menschen würden eine entsprechende Entscheidung nur dann treffen, wenn der erwartete Nutzen deutlich über den Kosten liegt (Novemsky/Kahneman: The Boundaries of Loss Aversion, 2005).

Bei genauer Betrachtung der Verlustzone in Abb. 2 zeigt sich eine weitere interessante Tatsache: Bei einer Wahl zwischen ausschließlich schlechten Alternativen ergibt sich aufgrund der Kurvenkrümmung eine Risikofreude. Es fühlt sich daher „schlimmer“ an, 900 € sicher zu verlieren als 1.000 € mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % zu verlieren. Diese Tatsache spiegelt tragischerweise den Sachverhalt wider, weshalb auch bei großen Verlusten weiterhin an Glückspielen teilgenommen wird.

Copywriting nicht als elementarer Bestandteil der Conversion-Optimierung

Daraus ergeben sich zusätzliche Implikationen für das Online-Marketing hinsichtlich der Kundenkommunikation. Neben den üblichen Sicherheitsstandards wie SSL und Vertrauenssignalen wie Bewertungen (Social Proof), Testimonials, Siegel, Garantien etc. ist insbesondere das Wording von großer Bedeutung. Wird in einer Kampagne der Schmerz, „100 € zu verlieren“, wenn nicht zur Premium-Variante gewechselt wird, kommuniziert, ist diese Nachricht wahrscheinlich aktivierender als „100 € zu gewinnen“ durch genau diesen Wechsel. Conversion-Optimierung bzw. A/B-Testing sollte insbesondere unter dem Aspekt des Texting verstanden werden, d. h., kleine Änderungen in der Wortwahl können große Änderungen nach sich ziehen. Des Weiteren sind Gratisproben/Testzeiträume von hoher Relevanz. Neben dem Aspekt der Reziprozität („Zwang“ des Revanchierens) wird der persönliche Referenzpunkt verschoben, was bei einem späteren Verlust zu negativen Gefühlen führt. Eng damit verbunden ist der Endowment-Effekt (Besitztumeffekt), welcher besagt, dass Menschen ein Gut bedeutsamer einschätzen, wenn sie es besitzen. Hotjar, ein Tool zur effektiven Optimierung der Website, kommuniziert neben einem risikolosen 15-Tage-Test ohne Kreditkarte eine kostenlose Variante (Abb. 4). Sobald das Tool eingesetzt wird, der Wert während der Testphase „gefühlt“ bzw. erlebt wird, werden anschließende Stornierungen unwahrscheinlicher. Alternativ gibt es eine kostenlose Version, welche ebenfalls Risikoaversion unterstützt und ggf. in ein kostenpflichtiges Paket mündet.

Eine weitere Auswirkung der Verlustaversion ist der „Status Quo Bias“, d. h. die Tendenz, den aktuellen Zustand/die persönliche Situation nicht zu verändern, da die Gefahr einer Benachteiligung größer erscheint als deren Vorteile (siehe Kahneman/Knetsch/Thaler: Anomalies: The Endowment Effect, Loss Aversion, and Status Quo Bias 1991; einfach.st/princt3). Unter diesen Aspekt fallen Routinen wie die identische Routenwahl bei der Fahrt zum Arbeitsplatz sowie die Tendenz, die Verträge des Internet-Providers, Stromanbieter oder des Mobilfunkpartners nicht nach dem Ende der Vertragslaufzeit zu kündigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass menschliches Verhalten zum überwiegenden Teil unbewusst stattfindet (System 1). Kaufentscheidungen werden lt. Gerald Zaltman, Professor an der Harvard Business School, zu 95 % mit dem Unterbewusstsein getroffen. Die persönliche Meinung, dass eine Entscheidung rational und gut getroffen wurde, ist demnach meist nicht zutreffend. Dem rationalen Denken (System 2) wird nur ein kleiner Teil der Entscheidungen vorgelegt. Betrachtet man selbstkritisch eigene Entscheidungen, insbesondere unter Risiko, so wird die neue Erwartungstheorie von Kahneman und Tversky mit dem tendenziell risikoaversen, vorsichtigen und Status-quo-präferierenden Ausgang schnell vor Augen geführt. Auch die negativen Aspekte der Aversion werden bildhafte Realität, d. h., wenn es nichts mehr zu verlieren gibt, alles aussichtslos erscheint, werden Menschen plötzlich sehr risikofreudig und setzen schlussendlich alles aufs Spiel – mit ungewissem Ausgang.

In diesem Sinne: Erkennen Sie Ihr eigenes Ausmaß der Risikoaversion und erfahren das Maximum an Freude - no risk, just fun!