Fischers Meinung: Verblöden wir?

Mario Fischer
Mario Fischer

Mario Fischer ist Herausgeber und Chefredakteur der Website Boosting und seit der ersten Stunde des Webs von Optimierungsmöglichkeiten fasziniert. Er berät namhafte Unternehmen aller Größen und Branchen und lehrt im neu gegründeten Studiengang E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.

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„Information at your fingertips“, postulierte Bill Gates in seiner Keynote 1995 auf der Comdex. Das ist jetzt 20 Jahre her. Die Vision, alles, was man an Informationen benötigt, praktisch in Echtzeit auf den Präsentierteller zu bekommen, ist wahr geworden oder wird je nach persönlichem Anspruch auf absehbare Zeit wahr. Und die Finger brauchen wir auch nicht mehr, um Informationen aus dem World Wide Web übermittelt zu bekommen. Sprache, Blicke oder Gesten reichen heute schon – und an der Steuerung per Gedanken wird fleißig und mit guten Erfolgen geforscht. Muskeln, die nicht trainiert oder gebraucht werden, verkümmern bekannterweise recht schnell. Drei Wochen im Krankenhausbett mit einer stabilen Beinschiene nach einer OP, und man muss das Laufen in der Physiotherapie mühsam und schmerzhaft wieder lernen. Aber was passiert mit unserem Denkmuskel, also dem Gehirn, wenn wir künftig alles auf Abruf von extern beziehen können? Werden wir dann irgendwann blöde?      

Aus evolutionsbiologischer Sicht gesehen, sind wir gut begründet faul. Unser Gehirn verbraucht mehr als 20 % unserer Energie. Da es früher nicht jeden Tag Schnitzel gab und wir in der Höhlenzeit niemals wussten, wann es wieder was Anständiges zu essen geben würde, sind wir genetisch auf Energiesparen eingestellt. Daher legen wir in uns in der Regel lieber auf die Couch und lassen uns z. B. via Fernsehen berieseln, als Spanisch zu lernen oder Differentialgleichungen zu lösen. Das ist natürlich nicht immer so und auch, wer aktiv Sport treibt, um fit zu bleiben, muss häufig den inneren Schweinhund überwinden. Wo immer wir eine Wahl haben, wählen wir häufig den bequemeren Weg. So weit, so gut.

„Wenn du nicht unbedingt musst, dann lass es lieber!“ – evolutionärer Grundsatz zum Energiesparen.

Bisher war das auch kein Problem, denn nicht nur durch den beruflichen oder privaten Alltag gibt es immer noch genügend zu tun, zu organisieren und Probleme, an denen wir rumdenken müssen. Was wir aber auch beobachten können ist, dass uns zunehmend Assistenzsysteme lästige Aufgaben abnehmen. Sie sind schon heute in der Lage, uns auf anstehende Termine aufmerksam zu machen oder darauf hinzuweisen, dass der Zug morgen Verspätung hat (gut, das ist noch keine Kunst, die Wahrscheinlichkeit ist schließlich hoch). Wie war das gleich noch mal bei der sog. „Kuba-Krise"? Die mendelschen Regeln? Welche Arten des Online-Marketings gibt es? Was versteht man unter dem PageRank? Wenn wir darüber und über andere Dinge etwas wissen wollen, können wir unsere Assistenzsysteme fragen. Und das wird zunehmend einfacher werden. Statt „OK Google“ mit einer Frage zu unserem Smartphone zu flüstern, reicht es auch schon, mit einer Datenbrille auf der Nase am Kölner Dom vorbeizulaufen, und das System bietet uns Informationen zum Standort an. Wir blicken auf eine Rechenaufgabe und erhalten per Display die Lösung. Warum also noch rechnen lernen? Warum in Geschichte in der Schule aufpassen, wenn wir doch in absehbarer Zukunft vielleicht nur noch eine Frage denken müssen, um die Antwort per Knochenschall, unhörbar für andere, zugeflüstert zu bekommen? Ein Blick ins Aquarium auf einen Fisch mit neuerdings seltsamen weißen Punkten – und unser Assistent weiß, welche Krankheit die Fische haben, und im Zweifel bestellt er auch gleich noch die richtige Medizin per „silent commerce“, also ohne menschlich formulierte Suchanfrage von Maschine zu Maschine. Still und automatisch eben. Wenn uns der Lebenspartner fragt, ob es für den nächsten Urlaub bei der Idee mit dem Eishotel in Grönland bleibt, kann der Hilfsposten auf unserer Nase oder vielleicht auch ein dezenter Chip hinter dem Ohr warnen: Oh, oh ... Vorsicht – Fangfrage! Es wäre ein provokanter und herausfordernder Unterton enthalten – jetzt keine unbedachte Antwort geben, denn das könnte mit 87-prozentiger Wahrscheinlichkeit Ärger bedeuten. Das Gegenüber ist leicht verärgert. Zukunftsmusik? Keineswegs. Bereits heute experimentiert die US-Einwanderungsbehörde aufgrund der Forschungsergebnisse von Paul Ekman und anderen mit automatischen Systemen, die über sog. Microexpressions in der Mimik Lügen und Stimmungen wie Angst oder Überraschung besser deuten können als der Mensch. Du lügst! Sagt mein Backendsystem.

Ob das alles und noch mehr so kommen wird? Aber sicher! Die Vergangenheit zeigt zweifelsfrei, dass sich Innovationen bestenfalls politisch oder auch ethisch begründet behindern oder verzögern lassen, aber niemals aufhalten. Bisher sind solche Assistenzsysteme noch nicht besonders schlau. Ihnen fehlt noch sehr viel Wissen sowie die Fähigkeit zur Schlussfolgerung. Aber bereits heute ist absehbar, dass sich das sehr schnell ändern könnte. Google und andere sind gerade dabei, das Wissen der Welt zu ordnen und ansatzweise zu verstehen. Über 15 Jahre lang hat man gesammelt und jetzt wird sortiert. Bisher war das Wissen, das den Extraktoren zur Verfügung stand, auf das Web beschränkt und auf das, was dort publiziert wurde. Jetzt werden die Maschinen mobil, beobachten die Umwelt, tauschen diese Daten untereinander aus und erweitern ihre Wissensbasis damit explosionsartig. Monatelang brabbelt ein kleines Baby nur Unsinn und beobachtet seine Umwelt. Ab einem gewissen Punkt wächst das Verständnis über diese Umwelt dann vergleichsweise ähnlich explosionsartig. Dann noch ein paar Jahre gute Ausbildung und die gebildeten Strukturen im Gehirn können unglaubliche Leistungen vollbringen. Alles eine Frage der Erfahrung und strukturierten Wissens. Akzeptiert man die These, dass Maschinen sehr schnell schlauer werden könnten, sehen wir einer phantastischen Zukunft entgegen. Oder?

„Verkommt irgendwann unsere Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen?“

Jederzeit fast alles per gedanklicher Frageformulierung abfragen zu können ... oder Antworten auf Fragen zu bekommen, die man noch gar nicht gestellt hat? Offenbar ist man auch bei Google überzeugt, dies irgendwann tun zu können. Durch (wirklich) intelligente Systeme werden natürlich auch Problemsituationen erkannt, noch bevor wir sie selbst erkennen. Schon heute bremsen moderne Autos sicherheitshalber mal kurz an, wenn der Fahrer dem System unaufmerksam erscheint. Wäre es kompliziert, aus einer Kundenmail das Problem zu extrahieren, dass ihm die Farben eines Designvorschlags nicht gefallen? Und nach einem maschinellen Besuch der Versionshistorie seiner Domain analysiert ein intelligentes System seine farblichen Vorlieben und macht Vorschläge, noch bevor wir die Kundenmail überhaupt gelesen haben? Ob hier unsere Kreativität verkümmern würde? Oder unsere vorherigen Anstrengungen und die Sorgfalt sinken, weil das System uns ja am Ende hilft? Verkommt generell unsere Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen? Und wann wird es so weit sein, dass uns das „Designsystem“ gar nicht mehr benötigt und der Kunde uns nicht mehr braucht, weil sein eigenes System die Verbesserungen gleich selbst vornimmt? Halt – noch eins drauf: Wann wird der Kunde sich gar nicht mehr darum kümmern, weil sein System solche Verbesserungen im Hintergrund automatisch vornimmt, ohne ihn noch zu informieren? Vollautomatisiertes und fortlaufendes intelligentes multivariates Testen? Denken Sie mal darüber nach!

Schon heute stelle ich fest, dass bei Studierenden vereinzelt eine Tendenz zu beobachten ist, für eigene Arbeiten und Referate in Seminaren sich einfach eklektisch einzelner Google-Treffer zu dem jeweiligen Stichwort aus der Gliederung zu bemächtigen und sie patchworkartig zu einem Paper zusammenzukleben. Selbst nachdenken? Warum denn? Liegt doch alles at your fingertips. Warum über etwas nachdenken, über das schon vermeintlich so viele andere nachgedacht haben? Während man sich früher in der Bibliothek mühsam selbst die richtigen Informationen zusammensuchen, bewerten und strukturieren musste, bekommt man heute fast zu jedem Thema fertige Lösungen in Sekundenbruchteilen auf den Schirm. Diese Einfachheit muss unsere eigenen Fähigkeiten und Verhaltensweisen zwangläufig beeinflussen.

Wenn wir immer mehr konsumieren und immer weniger eigene Überlegungen anstellen (müssen), also produzieren, und man dies schon jetzt beobachten kann – wie wird das in einigen Jahren sein, wenn man sich noch nicht mal an den Rechner oder das Smartphone setzen muss und einem die Informationen einfach so zufliegen? Werden in Schulen bei Prüfungen die kleinen Chips hinter dem Ohr deaktiviert, um die glatte 1.0 für alle zu vermeiden? Halt – warum dann überhaupt noch in die Schule gehen? Wenn jeder alles wissen kann, werden Bildungsabschlüsse gänzlich unnötig – oder? Zumindest so lange, wie Faktenwissen noch zu einer Ausbildung gehört.

„O tempora, o mores“; Cicero, 63 v. Chr.

Die Zeiten ändern sich. Das war schon immer so und wird auch immer so sein. Die Großeltern unserer Großeltern wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es das (was auch immer) früher nicht gegeben hätte. Unsere Großeltern haben das Gleiche zu uns gesagt und wir werden bei unseren Enkeln den gleichen Fehler begehen. Die Jugend rebelliert seit jeher gegen bestehende Regeln, und das ist auch gut so, denn es ist Teil des Erwachsenwerdens und ein wichtiger Teil der sozialen Evolution. Dass nachfolgende Generationen anders ticken und wir das in der Regel nicht einfach so nachvollziehen können, ist also durchaus Normalität.

„Macht uns notwendigerweise die Fähigkeit, Herausforderungen meistern zu müssen, für den Alltag fit?“

Was sich aber jetzt ändert, ist grundlegenderer Natur. Es ist die Notwendigkeit, uns Dinge merken zu müssen. Und es bleibt die Frage zu stellen, ob all dieses auch oft als unnütz empfundene Wissen – und es im eigenen Kopf zu strukturieren – dazu notwendig ist, neue Dinge wirklich zu verstehen und richtig zu interpretieren, wenn wir auf sie treffen? Können wir ohne Erfahrungswissen noch gut „managen“ und die richtigen Entscheidungen treffen? Wie unterscheiden wir dann Wichtiges von Unwichtigem? Und zwar wenigstens für die Übergangsphase, bis Maschinen uns auch dies abnehmen? Machen wir uns das doch mal am Beispiel von Geschichte deutlich und stellen uns einen Politiker vor, der im Unterricht bis zum Abitur gefehlt hat – googlen kann er aber. Genügt es, sich sämtliche geschichtlichen Fakten bei punktuellem Bedarf on the fly anzeigen zu lassen, und muss man nicht mehr grundsätzlich verstanden haben, was damals zur Trennung Deutschlands beitrug? Kann man die Äußerungen eines amerikanischen oder russischen Präsidenten richtig deuten, wenn geschichtlicher Hintergrund und die historischen Zusammenhänge im eigenen Kopf fehlen? Verabschiedet man sich in einer Diskussion einfach schnell mal für eine halbe Stunde und holt Bildung per Chipflüsterei draußen auf dem Gang nach, bevor man sich qualifiziert einmischt? Oder braucht man das gar nicht mehr, weil eh niemand mehr Ahnung hat, was mal Sache war und ob es daraus wichtige Lehren für aktuelle Entscheidungen zu ziehen gibt?

„Lässt sich Gedächtnis einfach ohne Folgewirkung outsourcen?“

Je länger man darüber nachdenkt, desto deutlicher wird das anstehende Problem: Wie soll man einem jungen Menschen klarmachen, dass er nur durch mühsame geistige Anstrengung und hohe Hürden sein Gehirn richtig trainiert und es damit auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet? Sein Gegenargument wird nachvollziehbar lauten: Warum denn anstrengen, wenn er doch alles Faktenwissen der Welt „at his Gedankentips“ abrufen kann? Und vielleicht hat er auf lange Sicht ja recht. Wenn alle diese Fähigkeiten künftig mehr und mehr abgeben, sind am Ende ja wieder alle auf gleichem Niveau. Dann wird vielleicht auch „Bildung“ gar nicht mehr nötig sein, weil sie niemand anderes hat?

„The Rise of the machines“, aktueller Vortragstitel von Marcus Tandler und unbedingt empfehlenswert

Wer wird dann all die wichtigen Entscheidungen treffen – qualifiziert, wohlüberlegt und gut auf mögliche Folgen hin durchdacht? Auch diese Antwort liegt relativ klar auf der Hand: Maschinen. Irgendwann werden die das sowieso besser können als wir und wir können uns bequem zurücklehnen und darüber nachdenken, wie lange es noch dauern wird, bis die Maschinen uns nicht mehr brauchen. Und vielleicht auch, wann sie zu der Erkenntnis gelangen, dass wir mit unserer zwangsläufigen Umweltverschmutzung, unseren Kriegen und unserer Unvollkommenheit eigentlich eher stören als nützen. Weg mit uns – der Anfang ist bereits gemacht.

Sind solche Gedanken zu abgefahren? Schreiben Sie mir unter chefredaktion@ websiteboosting.com  – ich freue mich wirklich auf Ihre Meinung!