Fischers Meinung

Die Stunde der Krieger

Mario Fischer
Mario Fischer

Mario Fischer ist Herausgeber und Chefredakteur der Website Boosting und seit der ersten Stunde des Webs von Optimierungsmöglichkeiten fasziniert. Er berät namhafte Unternehmen aller Größen und Branchen und lehrt im neu gegründeten Studiengang E-Commerce an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.

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Es mehren sich die Anzeichen, dass immer mehr Dienstleister mit einfachsten Mitteln und vollen Backen gerade im deutschen Mittelstand eine wachsende SEO-Blase aufpusten. Der Mittelstand, ansonsten resistent gegen unverständliche Verkaufsargumente von Vertretern, kriecht mittlerweile offenbar schon auf den klebrigen Vertragsleim, wenn man einfach nur laut „Oben bei Google!“ ruft. Das hat sicher mit der chronischen Unterbudgetierung der oft nur rudimentär oder gar nicht vorhandenen Online-Abteilung zu tun, könnte aber vielleicht auch falschem Vertrauen geschuldet sein. Wenn der nette Herr Kaiser von der Versicherung bei seinem jährlichen Besuch neben dem bekannten grünen, gelben und blauen Formular nun auch noch ein neues, stützstrumpffarbenes Papier mit neuen Kästchen und Online-Begriffen herauszieht und helfen kann, dass man bei Google & Co. ganz oben rauskommt … Warum nicht?

14.500.- €. So steht es von Hand geschrieben auf einem Durchschreibeblockpapier. Die Unterschrift des Firmenchefs ist bereits unten auf dem Formular, das für eine so komplexe Dienstleistung erstaunlich wenige Zeilen hat. Links neben der Zahl steht in krakeliger Handschrift eingetragen: „Individuelles SEO-Paket.“ Auf einem anderen Zettel steht: „AdWords-Kampagne.“ Daneben dann 5.000.- €. Ob das wohl ein seriöses Angebot sei, werde ich gefragt. Schwierig zu sagen, wenn man etwas für fast 20.000.- € beauftragt, das so knapp spezifiziert ist, dass sich die Produktbeschreibung eines Turnschuhs in einem durchschnittlichen Online-Shop im direkten Vergleich wie „Krieg und Frieden“ oder „Säulen der Erde“ liest.

Ich sehe mir also bewundernd die Company näher an, deren Außendienstmitarbeiter es schaffen, mit offenbar einigen warmen Worten Mittelständlern so viel Geld für eine worthülsige Tätigkeitsbeschreibung aus den Taschen zu ziehen, in denen diese in der Regel eher Stacheldraht für Vertreter aufbewahren. Die Erleuchtung und das Verständnis kommen schnell, als ich sehe, dass hinter der Company ein Telefonbuchverlag steckt bzw. es sich um ein Tochterunternehmen eines solchen handelt. Auf der Website dieses Tochterunternehmens steht in etwa, dass man „in Web“ mache. Aber wenn es um SEO gehe, vergebe man die Aufträge weiter an ein anderes Unternehmen. Schaut man sich an, wie diese SEO-Agentur arbeitet, wird schnell klar, wie der Deal läuft: Man setze sich mit dem Kunden zusammen und spezifiziere zehn (in Ziffern „10“) Keywordphrasen, mit denen man das Unternehmen dann auf die erste Seite bei Google bringe. Das alles sei völlig ohne Risiko, denn falls man das nicht schaffe, müsse nichts bezahlt werden. Ausnahmen sind dann wohl die Aufträge, die über eine solche Vermittlungskette wie oben beschrieben zustande kamen. Aber vielleicht wurde die „Garantie“ hier ja auch über die Tonspur mündlich zugesichert und somit nicht beweisbarer Bestandteil des Vertrages. Man weiß es nicht. Ich glaube aber, leise das Patschen der Hände auf den Schenkeln der Juristen zu hören, wenn sie diese Zeilen lesen und sich die Lachtränen aus den Augen wischen.

Ob für das Individualpaket für 14.500.- € tatsächlich Arbeit geleistet wird, die dem beauftragenden Unternehmen am Ende auch ein messbares Umsatzplus bringt, darüber kann man nur spekulieren. Aber Erfolg ist bekanntlich Definitions- und Auslegungssache (vgl. Wahlkampfversprechen vor und nach der Wahl). Und jemandem als Erfolgsmaßstab zu versprechen, auf die erste Seite bei Google kommen zu können, wirkt bei den meisten wohl so, als würde bei der Fluggesellschaft für einen dringend benötigten Flug nur noch ein freier Platz ausgewiesen. Oder wie ein Gutschein mit 30 %, der per Countdown nur noch eine Stunde gültig ist. Ein Teil des Gehirns, genauer gesagt derjenige, der für vernünftiges Denken zuständig ist, schaltet ab und ein evolutionsbedingter Automatismus irgendwo aus der Nähe der Nebennierenrinde murmelt: „Ja, ich will!“ Während gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, die ja oft inhabergeführt sind, die Ausgaben und wofür sie verwendet werden, kritischer hinterfragt werden, als es insgesamt gesehen vielleicht gut wäre, reicht ein leise gehauchtes „Willste oben bei Google sein?“, um mit einem Koffer voll Geld das Gelände verlassen zu können.

Aber ist es nicht erstrebenswert, bei einer so bekannten Suchmaschine wie Google mit der Unternehmenssite auf der ersten Seite aufzutauchen? Nö – eigentlich nicht. Erstrebenswert für ein normales, mittelständisches Unternehmen mit ehrlichen Produkten und/oder Dienstleistungen ist es, bei den richtigen Suchphrasen aufzutauchen, nicht bei irgendwelchen oder bei möglichst vielen. Und wie immer im Leben, kommt man nicht mit bloßem Fingerschnipsen und einem Lächeln an die Spitze von etwas, das wirklich Geld bringt. Gut, außer vielleicht, man ist Jonny, der Depp, oder war im Dschungelcamp.     

Und wie gelingt es dann, ohne großen Aufwand für zehn oder mehr vereinbarte Suchphrasen auf die erste Google-Seite zu kommen? Der erste Schritt dieses gar nicht geheimen Rezepts besteht darin, dem Kunden scheinbar passende Suchphrasen vorzulegen. Oft wird das nach einem bestimmten und bewährten Muster gemacht: „[Eine_Produktbezeichnung] Onlineshop kaufen.“ Solche typischen Phrasen bestehen häufig aus drei oder mehr Begriffen und haben fast alle die Eigenschaft, dass bei einer Google-Suche mit dieser Phrase – Wichtig: In Anführungszeichen gesetzt! – keine oder nur wenige Treffer erscheinen. Durch die Anführungszeichen stellt man sicher, dass tatsächlich nur Seiten auftauchen, die exakt diese Wortkombination enthalten. Da die Phrasen so ausgewählt werden, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eben gerade nicht genauso (in der unnatürlichen Formulierung) eingegeben werden und so dann auch nirgends auftauchen, hat die SEO Agentur leichtes Spiel. Hier ist praktisch keine Konkurrenz vorhanden. Oft reicht es, die vereinbarte Suchphrase zwei- oder dreimal auf (irgendeine) Webseite zu schreiben. Zusätzlich dann noch ab damit in den Title und die Description. Profiblender unter den SEOs fügen oft auch mystisch klingende, aber völlig nutzlose Metatags wie „Revisit-after“ oder gar das unausrottbare Meta-Tag „Keywords“ ein, um den Kunden zu beeindrucken. Wenn die Keywordphrase im normalen Text stört, wird sie gern auch schon mal ganz unten in den Fußbereich der Seite kopiert. Nach wenigen Tagen erscheint die so präparierte Seite in der Regel gar nicht mal so selten auf Platz eins. Der Grund ist, dass eine wirklich exakte Übereinstimmung mit einem Suchtext dem Google-Algorithmus logischerweise noch immer sehr wichtig ist. Zudem liegen für die künstlich erzeugte Phrase keinerlei oder zu wenig historische Daten bei Google vor, die man mit einfließen lassen könnte. Und da die Suchphrase ja bisher nicht oder nur selten gesucht wurde – also ganz offensichtlich nicht wirklich jemanden interessiert –, vermutet Google hier offenbar auch keinen begründeten Verdacht einer Manipulation durch Spammer. Denn mit einer Phrase, die vielleicht ein- oder zweimal pro Monat oder Jahr eingetippt wird, kann man normalerweise kein Geld verdienen. Spammer wenden sich daher in der Regel „werthaltigeren“ Suchbegriffen zu.

Wie kann man sich schützen gegen Agenturen, die einem mit scheinbar attraktiven Angeboten eine augenscheinlich schwierige und aufwendige Dienstleistung verkaufen, die in Wirklichkeit von jedem (gut) angelernten Hilfsarbeiter innerhalb weniger Stunden erbracht werden kann?

Zunächst darf man sich nicht bei der Bestimmung von Suchphrasen über den Tisch ziehen lassen. Die Suchphrasen sollten und müssen gemeinsam definiert werden. Die Agentur muss dabei unterstützen und sollte nicht lenken. Für jede Suchphrase muss aber auf jeden Fall geprüft werden, wie groß der Aufwand wirklich ist. Wie viele Treffer kommen wirklich, wenn man die Suchphrase mit Anführungszeichen bei Google eingibt? Wie oft wird tatsächlich danach gesucht. Abbildung 1 und Abbildung 2 verdeutlichen gut, wie missverständlich angebliche Erfolge einer SEO-Agentur sein können. Die Suchphrase „Papiertragetaschen Online Shop“ kam als Phrase tatsächlich im Web vorher nirgends vor. Als Beweis weist Google bei der Suche mit Anführungszeichen nur einen Treffer aus – nämlich die Seite, auf welcher die Agentur ihre Leistung erbracht hat. Wie oft wurde diese Phrase tatsächlich gesucht? Bisher noch nie, weist das Keywordtool von Google aus. Mit Ausnahme von zehn Suchanfragen im März 2014, die möglicherweise von dem Unternehmen selbst oder der Agentur als „Erfolgskontrolle“ durchgeführt wurden. Aber schon im April und Mai weist Google keinerlei Anfragen mehr aus. Das Interesse ist wohl schnell wieder abgeebbt. Die dritte Referenzangabe (Abbildung 1) weist für die Suchphrase „Badarmatur Duscharmatur“ als Erfolg die erste Seite aus – aber auch hier wieder für eine Suchphrase, die bisher offenbar noch niemand in dieser eher unsinnigen Kombination gesucht hat. Vielleicht auch sehr aufschlussreich ist, dass bisher auch niemand Interesse hatte, diese Phrase bei AdWords zu buchen. Den „Wettbewerb“ gibt Google mit 0 an.   

Man muss kein Conversionspezialist sein, um zu erkennen, dass Begriffe, für die der Suchtraffic ausbleibt, auch nicht zu Umsatz führen können. Seite eins bei Google? Ja. Aber nicht für zusammengestöpselte Keywordkombinationen, die im ersten Moment vielleicht passend klingen, weil sie ja irgendwie Keywords enthalten – die aber trotzdem so nicht gesucht werden. 

Wer bis hierhin aufmerksam und kritisch mitgedacht hat, der fragt sich jetzt sicher, wie denn das gehen soll? Für eine Leistung erst mal einen Preis zu fixieren und danach darüber zu sprechen, welche Erfolgskriterien, sprich Keywordphrasen, es sein sollen bzw. dürfen. Die Reihenfolge stimmt nicht. Und Sie haben recht – das geht wirklich nicht. Niemand unterschreibt normalerweise einen Vertrag, in dem nur ein Preis, nicht aber das zu liefernde Ergebnis enthalten ist. Ja, Sie haben wieder recht: Das verpflichtet einseitig den Auftraggeber auf den Betrag, der Auftragnehmer hingegen lässt alles offen. Und noch schlimmer: Um die wirklich richtigen Suchphrasen seriös zu ermitteln, braucht man vergleichsweise sehr viel Zeit und Sorgfalt. Wirklichen Erfolg bei SEO kann man nur erzielen, wenn man nicht Begriffe verwendet, die mit Bauchgefühl ausgewählt wurden oder mit  „Ich denke, glaube, vermute …“, sondern nach harten Analysen.

Echte Profis testen ein Begriffsset sogar via AdWords vorher auf Conversionwirkungen und -tauglichkeit, bevor man auch nur einen einzigen SEO-Finger krumm macht. Warum, ist glasklar: Anders als für die organischen Suchergebnisse kann man bei AdWords vergleichsweise leicht und schnell oben auftauchen und sofort messen, was das für das jeweilige Keyword tatsächlich am Ende bringt. Die Klicks kosten zwar Geld, bringen dafür aber ja auch echten Traffic und daher muss man das dafür notwendige Budget gar nicht mal unbedingt gänzlich als „Analysekosten“ verbuchen – im Gegenteil. Optimiert man hingegen ohne diese Erkenntnis via SEO für einen Begriff, ist aller Aufwand bereits getätigt – und erst dann, wenn das Geld ausgegeben wurde, erkennt man, ob man die Suchphrasen erwischt hat, die am Ende auch Leads oder Verkäufe triggern.

Umgekehrt ist das vielleicht genau das, was man einem Mittelständler nur schwer vermitteln kann: Vorher für etwas zu zahlen (z. B. einen Keyword-Workshop oder eine AdWords-Testkampagne), damit bestimmte Vertragsinhalte ermittelt und fixiert werden können. Hier sind viele noch gewohnt, dass man Vertreter eher „antanzen“ lässt und vermeintlich viel Vorleistung bekommt, bis man einen Auftrag erteilt und etwas von seinem Geld hergibt. Und es gibt ja auch genügend SEO-Agenturen, die solche Vorarbeiten kostenlos anbieten. Das ist zwar keineswegs die gleiche Vorarbeit – aber es fällt dem Laien natürlich sehr schwer, genau dies zu erkennen. Der Pitchingwahn lässt grüßen. Man lehnt sich zurück und genießt eine Show, von der man im Grunde genommen keine Ahnung hat und bei der man am Ende ehrlicherweise auch nicht objektiv entscheiden kann, wer da die beste –kostenlose – Vorarbeit geleistet hat. Seriöse SEO-Agenturen nehmen in der Regel an solchen Pitchings für den Voraufwand aus den oben genannten Gründen gar nicht teil. Im schlimmsten Fall kann man an Ende nur aus Blendwerk auswählen? „Du musst mich erst mal bezahlen, damit wir gemeinsam daran arbeiten, was überhaupt genau zu machen ist und was davon auch ökonomisch (!) sinnvoll wäre. Was die eigentliche SEO-Leistung später dann kosten wird, wissen wir erst dann." Das muss man erst mal verargumentieren! Auch, dass die Auswahl der wirklich richtigen Keywords den späteren Erfolg bestimmt. Und diese Auswahl ist durchaus eine eigenständige Leistung, die mit SEO zunächst technisch gesehen gar nichts zu tun hat. Vielleicht ist diese Auswahl sogar das Wichtigste in der ganzen Optimierungskette.

Im eingangs beschriebenen Fall war es möglicherweise das grenzenlose Vertrauen zum Außendienstler des Telefonbuchverlages, das solche Überlegungen unnötig erscheinen ließ. Die kommen schließlich schon seit über 30 Jahren jedes Jahr einmal vorbei und bringen das Unternehmen auch in einem anderen, wichtigen Verzeichnis, den vergelbten Seiten, unter. Zwar haben in den letzten Jahren wohl die wenigsten noch solche gelben Bücher in freier Wildbahn gesehen, aber es soll sie noch geben. Zumindest gedruckt werden sie noch. Und wenn diese wirklich mal weniger genutzt werden sollten, dann ist es sicher keine schlechte Idee, mit dem eigenen Unternehmen bei Google & Co. aufzutauchen. Insofern ist es nur folgerichtig, auf den Durchschreibeblock nun auch noch AdWords und SEO zu verkaufen, sorry, zu vermitteln. Strategisch denkende Unternehmer würden vielleicht zweifeln, ob es in diesem Zusammenhang wohl richtig ist, die Kernleistung „SEO“ dann doch an ein anderes Unternehmen zu vergeben … Aber eine Provision ist besser als nichts und wir reden schließlich über eine Branche, die in der Vergangenheit und auch jetzt noch das eine oder andere Problem mit dem Web hat und zumindest gefühlt noch immer darauf wartet, wann sich dieser ganze Hype darum endlich wieder legt.

Natürlich muss am Ende, und gerade da, noch mal darauf hingewiesen werden, dass nicht jede Agentur, die mit „Erfolgsgarantien“ arbeitet und dem Kunden die Suchphrasen vorschlägt oder gar vorgibt, automatisch unseriös arbeitet. Aber in wenig Bereichen kann man vertraglich abgesichert und mit so wenig Aufwand aktuell so viel Geld verdienen. Fast wäre ich zu einem Wortspiel geneigt. „Verdient“ hat man das Geld in diesem Fall wohl zumindest in dieser Höhe nicht. Aber dann fiele mir nur als Gegenbegriff „abgezockt“ ein – und das wäre schon ein hartes Wort – oder?

Seit Gordon Gecko im Film Wallstreet (Teil 1) wissen wir, dass die Gier der Menschen grenzenlos ist. Daran ist auch nichts Verwerfliches, denn sie ist oft auch Motor des Fortschritts und der Bewegung. Aber es ist zu befürchten, dass immer mehr (SEO)-Agenturen mit schlecht ausgebildeten Mitarbeitern und primär dicken Dollarzeichen in den Augen auf den Markt drängen, nein, regelrecht in den Markt hineingesaugt werden. Denn dieser Sog nach SEO-Leistungen seitens der Unternehmen wird in den nächsten Jahren sicher noch weiter ansteigen. Wie man sich gegen Anbieter schützen kann, die selbst nur wenig mehr Ahnung haben als das beauftragende Unternehmen, ist hinlänglich bekannt. Als Frage bleibt: Wie bringt man diese Unternehmen dazu, sich vorher und nicht nachher damit zu beschäftigen, was ein guter Weg gewesen wäre?