Indernet in Indien – Fakten und Trends

Michael Müßig
Michael Müßig

Michael Müßig ist Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und wirkte für die Fakultät Informatik und Wirtschaftsinformatik entscheidend am Aufbau einer Hochschulkooperation mit der Christ University Bangalore mit. Im Rahmen eines erneuten Aufenthaltes im Februar 2011 nahm er unter anderem am Social Media New Face of Marketing teil und lernte dabei Suresh Babu als einen der führenden Webmarketiers Indiens kennen.

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Fast 1,2 Mrd. Einwohner, eine boomende Wirtschaft und alle sprechen Englisch – auf den ersten Blick ein Paradies für alle, die im Web Geld verdienen wollen. Doch eine tiefer gehende Analyse der aktuellen Gegebenheiten offenbart, mit welchen Problemen eine solche Volkswirtschaft zu kämpfen hat, und zeigt uns in Europa damit auch, welche wichtigen Rahmenbedingungen hier einfach schon stimmen. Und dass nicht nur der Blick über den Teich in die USA manchmal hilfreich ist, wird durch einige typisch indische Beispiele deutlich.

The worlds factbook – die Basis

Bekannt sind natürlich die Metropolen Delhi, Mumbai (Bombay), Kalkutta und, nicht nur durch den IT-Boom, Bangalore: Konglomerationen mit 8 bis 22 Millionen Einwohner. Tatsächlich leben aber aktuell ca. 840 Millionen Inder in sogenannten „rural areas“, also auf dem Land. Und das ist nicht mit Idar-Oberstein oder Neustadt an der Irgendwas zu vergleichen; selbst ein österreichisches Hochgebirgsdorf ist näher an dem, was man allgemein als Zivilisation bezeichnet. Diese Gegenden in Indien waren und sind teilweise für grundlegende Güter wie Essen, Trinken und Elektrizität unerreichbar, sodass hier aktuell nur ca. 5,54 Mill. Nutzer des Internets zu finden sind. Während Deutschland aktuell mit 65 Millionen Internet-Usern angegeben wird, findet man davon nur 61 Millionen (CIA-Factbook) oder auch 81 Millionen (nach internetworldstats.com) in Gesamtindien. In der Weltrangliste nach Zahlen also Platz 5 und 6, sortiert man aber nach relativem Anteil, dann zeigt sich der wahre Unterschied. Neidisch könnte man aber bei den Werten über „Mobiles“ werden: 670 Millionen Handys sind in Indien registriert – bei den gar nicht in Nachkomma-Eurocentbeträge umzurechnenden Verbindungsgebühren auch für arme und ärmste Inder ein MUST. Für einen wirklich relevanten E-Commerce fehlt aber noch ein weiteres wichtiges Element: Nur ca. 2 % der indischen Bevölkerung verfügen über eine Kreditkarte – und das liegt nicht nur am fehlenden Einkommen, sondern an einer ausgeprägten Aversion der Bevölkerung gegen „unbare“ Geschäfte. Damit sind auch andere Online-Bezahlsysteme hier nicht üblich. Lediglich CC Avenue und PayPal geben die Möglichkeit, Online-Geschäfte in der heimischen Währung Rupie abzuwickeln. Kulturell bedingt will man Ware, bevor man sie kauft, anfassen und die „menschliche Verbindung“ zum Verkäufer spielt eine große Rolle. Die meisten Lieferanten können oder wollen auch erst dann ausliefern, wenn das Geld bereits auf ihrem Konto gutgeschrieben ist. Dazu kommt, dass die Logistiksysteme im Subkontinent weder ausgereift noch günstig sind. Amazon benötigt bei einer Standardlieferung nach Indien 18–31 Werktage und verlangt dafür 13,99 USD pro Lieferung, was ca. 4 USD pro Artikel entspricht.

Der aktuelle Stand

Die bislang beliebteste und günstigste Marketingform, um Massen zu erreichen, war natürlich das SMS-Marketing. Die „Telekom Regulatory Authority of India“ (TRAI) hat allerdings neue Wege angekündigt, um zukünftig Konsumenten vor SPAM-Marketing-SMS und -Anrufen zu schützen.  Trotzdem werden mobile Systeme auch im Bereich des Internets die tragende Säule beim zukünftigen Aufbau einer E-Commerce-Infrastruktur darstellen. Die Wachstumsraten im Vergleich zu stationärem Internet in Verbindung mit stabileren und schnelleren Verbindungsmöglichkeiten stellen die notwendige Basis.

Während Online-Shopping von materiellen Gütern erst eine radikale Verhaltensänderung bei den Verbrauchern voraussetzt – was auch optimistischen Prognosen nach noch einige Jahre dauern wird – stehen andere Nutzungsformen schon heute im Mittelpunkt: Reiseplanungen und -buchungen, egal ob Flug, Bahn oder der weitverbreitete Busverkehr, Kino- oder Konzerttickets haben der Verkehrs- und Unterhaltungsbranche einen wichtigen Platz im E-Commerce Eco-Space verschafft. Das „Indian Railways Online Passanger Reservation Systeme“ (IRCTC) ist eine der Top Sites in diesem Bereich. IRCTC hat mehr als 16 Millionen registrierte Nutzer (erreicht also ca. ein Viertel aller Internetuser) und verkauft an einem durchschnittlichen Tag über 255.000 Tickets. Zusätzlich hat IRCTC Kooperationen mit verschiedenen Banken und bietet darüber „Prepaid Cashcards“ an, um die Online-Transaktion für alle Nutzer einfacher zu machen – quasi ein proprietäres Debitcardsystem. Red Bus, der „online bus booking reservation service in India“ hat das größte Netzwerk unter den Busunternehmen aufgebaut, sodass man für über 700 Reiseunternehmen mit mehr als 100.000 Routen durch Indien die Tickets online buchen kann.

Weitere wichtige Reiseseiten sind Make My Trip, Yatra und Clear Trip.

Insofern wundert auch die Liste der TOP-10-Commerce-Sites in Indien nicht:

Indian Railways : https://www.irctc.co.in/
Make my Trip: www.makemytrip.com
Yatra: www.yatra.com
Flipkart: www.flipkart.com
Myntra: www.myntra.com
Book my show: www.bookmyshow.com
Red bus: www.redbus.in
Snap deals: www.snapdeal.com
Infibeam: www.infibeam.com
SeventyMM: www.seventymm.com

Amazon ist nicht mit einem eigenen Angebot vertreten – Ähnlichkeiten bei infibeam sind sicher eher zufällig. Homeschop18.com wirbt mit einer „Pay Cash on Delivery“-Funktion, vergleichbar mit einer Bestellung per Nachnahme in Deutschland.

Aber selbstverständlich spielen auch Social Media eine große Rolle. Erst kürzlich hat Facebook Orkut den ersten Rang unter den Social-Media-Angeboten abgelaufen. Der Durchbruch gelingt auch hier durch die Nutzungsmöglichkeiten auf Smartphones. Selbst technisch wenig vorgebildete User sind jetzt in der Lage, dabei zu sein. So hat AirCell für seine Kunden die Option bereitgestellt, den eigenen Facebook-Status per „Voice Call“ zu aktualisieren. Erschwert wird die Verbreitung allerdings durch die Sprachenvielfalt. Es gibt in Indien mehr als 24 offizielle Sprachen. Hier sind entsprechend angepasste Angebote noch wenig ausgereift, sodass unter den 70 % Indern, die kein oder kein gutes Englisch sprechen, noch ein großes Potenzial vorhanden ist.

Zu den populären Social-Media-Plattformen in Indien zählen mit Facebook, Twitter, LinkedIn, YouTube und Flickr auch hierzulande bekannte Vertreter, es gibt aber mit ibibo zum Beispiel ein sehr erfolgreiches, rein auf Social Games begrenztes Netzwerk.

Partnerschaften zwischen Youtube und der Hindi Film Industry („Bollywood“) bzw. eine Live-Berichterstattung über Cricket (in Indien etwas bedeutsamer als bei uns Fußball) machen die Angebote weiter bekannt und sind wesentlich für das phänomenale Wachstum in diesem Bereich.

„Group Buying Sites“ wie Snap Deal und Taggle India wachsen mit ortsbezogenen Angeboten, was durch die oben genannten E-Commerce-Einschränkungen bezüglich der Bezahlung und des persönlichen Kontakts sehr Erfolg versprechend anläuft. Groupons wurde auch kürzlich für Indien gestartet und Ebay folgt diesem Trend, sodass lokalisierte Angebote zu einem spannenden Thema werden könnten.

Interessante und bedeutsame Angebote

Natürlich gibt es in Indien Initiativen, die Internetnutzung einer breiteren Bevölkerungsschicht „schmackhaft“ zu machen. Eine Ausprägung ist ITCs ECHOUPAL (www.echoupal.com), das 2000 startete. Von einem der größten indischen Exporteure für landwirtschaftliche Erzeugnisse gegründet, erreicht es heute über 4 Mio. Bauern. Es beinhaltet unter anderem Wetterinformationen, aber auch aktuelle Aussagen zu Marktpreisen von Getreide, Sojabohnen, Reis, Shrimps etc., womit verhindert wird, dass die Erzeuger von fahrenden Händlern mit Tiefstpreisen abgespeist werden. Gleichzeitig werden die Lieferketten und der Austausch mit Händler unterstützt. Heute ist ECHOUPAL eine bedeutsame und stark wachsende Plattform, mit der auch Kleinbauern ihr Geschäft optimieren können. Mit über 6.500 realen Kiosken erreicht man ca. 40.000 Dörfer in 10 Bundesstaaten.

Eine andere Ausprägung ist das Google-Internet-Bus-Projekt: kein indisches Streetview, sondern eher ein Internetview auf der Straße. Es hat zum Ziel, den Menschen, insbesondere in den ländlichen Gegenden, zu erklären, was Internet eigentlich ist und welche Vorteile es für das tägliche Leben bringt. Hier wird also überhaupt die Basis für eine weitere Verbreitung des Internets gelegt.

Herausforderungen

Eine der größten Herausforderungen ist die Etablierung akzeptierter und schneller Bezahlsysteme, die die kulturellen und rechtlichen Eigenheiten (eingeschränkte Konvertierbarkeit der Währung) Indiens berücksichtigt. Hier sieht man Chancen im Bereich des Mobile Payment und anderer Abrechnungsalternativen, die man teilweise aus dem Umfeld der Microcredits ableiten könnte. Dabei muss auch der Weg der Rückerstattung klar vorgesehen werden.

Das Internet, insbesondere speziellere Themen wie Internet-Marketing, Social Media etc., ist in den indischen Colleges und Universitäten noch kein gesondertes Thema. Die Studenten werden weder im Allgemeinen noch speziell mit den Entwicklungen in der digitalen Welt vertraut gemacht. Insofern steht Internet-Marketing noch deutlich in seinen Anfängen. Konferenzen, Seminare und Workshops gewannen erst in den letzten beiden Jahren etwas an Popularität. Die „Click Asia Summit“ in Mumbai im Januar 2011, die „India Search Summit“ und die „IAMAI Digital Marketing Conference“ sowie die „OME Community and Web Marketing Academy´s Search Marketing Summit“ in Bangalore in diesem Februar zeigen, dass sich hier die Community erst findet. Trotz dieser Einschränkungen sind Wachstumsraten von 70 % jährlich oder auch 500 % in den letzten drei Jahren sicher Werte, die einem europäischen Manager im Internetgeschäft strahlende Augen verschaffen würden.