Das Web ist tot?

Michael Müßig
Michael Müßig

Michael Müßig ist Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und wirkte für die Fakultät Informatik und Wirtschaftsinformatik entscheidend am Aufbau einer Hochschulkooperation mit der Christ University Bangalore mit. Im Rahmen eines erneuten Aufenthaltes im Februar 2011 nahm er unter anderem am Social Media New Face of Marketing teil und lernte dabei Suresh Babu als einen der führenden Webmarketiers Indiens kennen.

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Es werden ja immer wieder neue Thesen und Provokationen durch die Medienlandschaft getrieben; viele davon sind sehr kurzlebig, andere halten sich länger und bekommen immer wieder neue Nahrung. Einer der „Aufreger“ in den letzten Monaten war sicher das Magazin WIRED mit seinem September-Aufmacher: „THE WEB IS DEAD“. Ist da was dran? Worauf sollte man sich einstellen? Der Beginn einer Diskussion …

Da hilft man, einen Verlag aus der Taufe zu heben, mit einem Herausgeber, der mit Online-Marketing-Guru, Professor Google und anderer Dritt- und Vierttiteln belegt wird, und das noch für den Magazintitel „Website Boosting“, was schon für einige Diskussionen über „Print ist doch tot, warum nicht im Web“ gesorgt hat. Und kaum ist man mal ein paar Tage in den USA unterwegs, da knallt (Ich werde anregen, unsere Januarausgabe auch in Orange einzufärben!) die Headline „THE WEB IS DEAD“ quer durch den Flughafenkiosk. Klar, das kenne ich, mein Web ist auch häufiger tot, aber das hat andere Hintergründe – und LTE steht ja vor der Tür. Darüber würde WIRED aber wohl nicht berichten. Und mit über 75.000 Google-Ergebnissen seit Mitte August scheint dieses Thema auch international Diskussion hervorgerufen zu haben. Wir wollen gerade beweisen, dass Print NICHT tot ist, müssen wir uns auch noch um das Web kümmern?

Was hat WIRED falsch gemacht?

Aus wissenschaftlicher Sicht einiges: Erstens verfälscht die Grafik, die jeder Blogger sofort übernommen und je nach Vorkenntnissen hochgelobt oder zerrissen hat, wirklich die Werte.

Berücksichtigt man den tatsächlichen Traffic-Zuwachs in den letzten 20 Jahren, dann ergeben sich ganz andere Schlussfolgerungen: Richtig ist, das auch das Web (höchster Prozentanteil ca. 2000) absolut immer noch stark ansteigt, auch wenn die Bereiche Peer-to-Peer (höchster Prozentanteil ca. 2005) und Video (aktuell die größte Nutzungsform) stärker und schneller steigen bzw. gestiegen sind. Also: Die Bedeutung des Web geht „relativ“ zurück, nicht „absolut“.

Zweitens die „Ableitung“: Kann man aus der bloßen Menge des Internet-Traffic auf die Bedeutung der einzelnen Medien schließen? Wie viel „bedeutender“ ist dann ein 2-min-Video mit 3,5 bis 4 MB im Vergleich zu ein paar Mails Ihres Chefs mit der endgültigen Bestätigung der Gehaltserhöhung oder dem kompletten Eintrag für „Europa“ mit über 5.000 Wörtern und 51 KB auf Wikipedia.de?

Drittens die Übertreibung: Totgesagte leben länger … Als ich Mitte der 90er-Jahre mit meinem damaligen Chef und Verleger diskutierte, ob das aufkommende Web die Fachzeitschriften überflüssig machen wird, entgegnete er mir, dass man das beim Aufkommen des Fernsehens auch schon prophezeit hätte, mit dem Effekt, dass Fernsehzeitschriften die Gattung mit der höchsten Auflage geworden seien (was für Web-Zeitschriften leider noch nicht gilt). Wir hatten beide Unrecht: Es gibt immer noch Fachzeitschriften, aber sie werden zwischenzeitlich durch das Web teilweise optimal ergänzt – NICHT ersetzt. Ja, es gibt kein btx mehr und Schwarz-Weiß-Fernseher auch nicht, aber hier hat man den gleichen Nutzen mit Folgetechnologien erzielt – besser und günstiger. Das Web und die Apps waren nie „Folgetechnologien“.

Viertens der leichtfertige Umgang mit dem Begriff „die oder das App“:  Einigkeit herrscht darin, dass es „kleine“ Applikationen sind und dass sie (mindestens vorrangig) auf Smartphones und Tablet-PCs/Pads zum Einsatz kommen. Schon hier wird WIRED undeutlich: Tweetdeck wird als „App“ bezeichnet, auch wenn es meines Wissens primär auf PCs installiert wird und weniger auf Smartphones. Und: Was ist „klein“? Apple hat – Marketingmaschine wie schon häufiger – den Begriff wunderbar für sich vereinnahmt, DEN Appstore etabliert und die zufällige Anlehnung an den eigenen Firmennamen ausgenutzt. Es würde jetzt auch keinen Sinn mehr machen, Goos oder Ands in den Markt zu kommunizieren. Als weitere Gemeinsamkeit wird genannt, dass Apps über einen Online-Shop bezogen werden – alles andere wäre aber nach aktuellem Stand auch sinnfrei. Häufig genannt wird auch, dass Apps speziell an die Zielplattform – es ist wohl insbesondere das Betriebssystem gemeint – angepasst sind. Aber das gilt auch, wenn man Software vergleicht, die einerseits auf dem Mac, andererseits auf Windows läuft. Fehlt nur noch, dass ein sehr großes Softwareunternehmen aus Walldorf zukünftig S-APPs anbietet …

Kann man trotzdem etwas ableiten?

Liest man den WIRED-Artikel unter diesen Gesichtspunkten noch einmal, dann kommen die tatsächlichen Probleme und Veränderungen zutage:

  1. „Google cant´t crawl“ … Während also bisher der Content von der Suchmaschine Nr. 1 durchsucht und aufbereitet werden konnte, ist dies bei Apps nicht mehr möglich. Wie kann also eine „Web-Suchmaschine“ zur „App-Suchmaschine“ weiterentwickelt werden? Oder wird das gar nicht notwendig? Reduziert sich die Bedeutung von Google als Kristallisationspunkt des Web, da es nicht an den Content der Apps kommt? Gelingt der Versuch von BING, durch eine exklusive Suche in Facebook – wie dieser Tage angekündigt – eine „sozialere Suche“ zu etablieren und damit den Giganten Google rechts zu überholen? Es bleibt also die Frage: Welche Bedeutung im Bereich SUCHE hat Google in Zukunft – sicher eine enorm große, aber vielleicht doch weniger als heute? WIRED pointiert: Google hat den Traffic und die Sales kontrolliert, aber Apple kontrolliert den Content. Und das deshalb vollständig, da es ein geschlossenes System von Distribution via iTunes zu den Endgeräten wie iPods, iPhones zu iPads und – vielleicht zukünftig – iMats pflegt. Und vergisst dabei nicht zu erwähnen, dass Steve Jobs mit PIXAR und iTunes zwei klassische Medienunternehmungen aufgebaut hat – und eben keine IT- oder Webfirmen. Wird Apple mit seiner Produktstrategie in fünf Jahren als Beispiel dienen? Als schlechtes Beispiel, weil man einen technischen Vorsprung durch massive Restriktionen im Content, in der Software (kein Flash) und den Schnittstellen (kein USB) verspielt hat? Oder als gutes Beispiel, weil man als „Hub“ ein Alleinstellungsmerkmal so schnell in die Breite brachte, dass Wettbewerber hier auf massive Markteintrittsbarrieren gestoßen sind?
     
  2. Techniksubstitution: Für viele standardisierte Fragestellungen, die man aktuell im Browser bearbeitet, können Apps als dedizierte „Info-Geber“ sicher einen Markt finden. Es ist der schnellere, schönere und problemlosere Weg – ob Aktienkurse meiner Depotwerte, das aktuelle Fernsehprogramm, der Wechselkurs oder was auch immer. „Information at your fingertips“ – das hat uns Bill Gates schon 1995 versprochen. Jetzt wird es Realität. Bleibt also hier die Frage: Welche aktuellen Browsernutzungen lassen sich besser als App darstellen? Einkauf von Büromöbeln? Oder nur sich ständig wiederholende Aktivitäten?
     
  3. Bezahlsystem: Immer noch eines der großen Themen im Web, mit zwei Schattierungen. Zum einen will man einfach nicht für „Content“ bezahlen. Alle Abosysteme und micropayment-orientierten „Kauf dir ein A“-Konzepte sind quasi gescheitert. Und gerade im Bereich der Klein- und Kleinstbeträge – wo sich weder die Überweisung noch die Kreditkarte wirklich lohnt – haben die neuen Modelle einen klaren Vorteil. Telefonieren kostet, eine Rechnung kommt sowieso, und wenn da noch sieben Positionen mit 15 oder 40 Cent für Content oder Apps mit aufgelistet sind, fällt das nicht ins Gewicht. Die Akzeptanz und die Abwicklungsworkflows sind etabliert. Verlagern sich also Bereiche, die genau hier Lücken im Geschäftsmodell haben, in diesen Bereich, den die Banken mit utopischen Überweisungsgebühren bisher konsequent verhindert haben?
     
  4. Eine interessante technologiehistorische Abfolge von WIRED kann man gut verlängern: Vom Desktop, also allen notwendigen Komponenten auf dem eigenen Rechner, hin zum Webtop, bei dem wesentliche Teile ausgelagert sind, sei es durch die Nutzung eines Gmail-Accounts (ohne Outlook im Frontend) oder anderer Software-as-a-Service-Anwendungen, auf die man durch eine Blättersoftware, auch Browser genannt, zugreift. Diese Entwicklung kann sich jetzt zum „Apptop“ weiterdenken lassen, vorausgesetzt, der „Normalanwender“ nutzt nur einige Standardapplikationen wie Facebook, Reisebuchung, Online-Banking und einige weitere mehr inkl. Mails. Auch hier bleibt spannend: Wie viele der privaten Nutzer besuchen sowieso immer dieselben 30 oder 40 Angebote und können diese in Zukunft deutlich einfacher konsumieren? Denn viel mehr dürfen es auch nicht sein. Auf ein HTC Desire passen im Direktzugriff gerade mal 110 Apps, ähnliche viele auf das iPhone, auf das iPad deutlich mehr. Und wird man dann für jedes Hotel, jeden Shop und jeden Blog eine eigene App installieren?
     
  5. Auf Basis von Morgan Stanley thematisiert WIRED einen weiteren schon bekannten Trend: In fünf Jahren wird die Anzahl der mobilen Nutzer die Anzahl der stationären Nutzer überholen. Natürlich ist alles, was mit location-based Services, mobilem Marketing etc. zusammenhängt, schon in Diskussion. Auch hier nur wieder die (berechtigte) Frage: Sind webbasierte Konzepte zukunftsträchtig?

Was bleibt und was könnte sich ändern: Plattformen

Die Spieler auf der „Angebotsseite“. Wer vor zehn Jahren Software entwickelte, für den war klar: Es muss auf Windows laufen, danach sehen wir weiter. Wer heute eine Website erfolgreich machen will, für den ist klar: Google-Optimierung ist notwendig. Wer in Zukunft mit Apps erfolgreich sein will, der muss … Ja, was? Auf Apple setzen, da dieses geschlossene, proprietäre System massiv gehypt wird? Und weil Apple mit dem iPAD eine komplett neue Geräteklasse definiert hat? Oder doch bei Google und Android bleiben, da offene Systeme sich schon immer mittelfristig am Markt durchgesetzt haben? Und weil Google durch seine vielfältigen Aktivitäten auch außerhalb des Webs in den letzten Jahren fast chamäleonartige Anpassungsfähigkeit bewiesen hat? Wenn Google also in Zukunft nicht nur selbst fahrende Autos erfindet (Verschiedentlich habe ich mich über das völlige technische Unverständnis von Amtsträgern, bezogen auf Google Streetview, ausgelassen. Anlass war folgendes Zitat: „Bei der Polizei wird die Entwicklung mit Sorge gesehen. ‚Durch den neuen Internetdienst können Kriminelle die Objekte in aller Seelenruhe betrachten. Sie können sehen: Wie ist das Haus gesichert?‘, sagte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt der F. A. S. Gleichzeitig hegt er Zweifel, ob die neuen Möglichkeiten umgekehrt auch von der Polizei genutzt werden können: ‚Es ist rechtlich unklar, ob eine virtuelle Streifenfahrt möglich ist.‘ Zitatende (http://einfach.st/faz1). Ich möchte mich in aller Form bei Rainer Wendt entschuldigen. Wahrscheinlich hatte er schon Mitte August Zugriff auf die Informationen zum Thema „Google Cars Drive Themselves, in Traffic“ (http://einfach.st/nyt1), die die New York Times erst am 9. Oktober veröffentlichte. Und dann ist es ja ein kleiner Schritt zu selbst fahrenden Google-Streetview-Fahrzeugen, die dann – bei entsprechender Anzahl – wöchentlich aktualisierte Aufnahmen zur Verfügung stellen können. Sorry, Herr Wendt, Sie waren meiner Fantasie und dem Recherchewissen der New York Times einfach voraus!) oder in Windkraft investiert, dann bleibt dieser Anbieter definitiv im Rennen. Und was ist mit Microsoft? Totgesagte leben länger, gilt auch hier. Hat man in den letzten Jahren im Mobile-Bereich nichts wirklich Spannendes aus Redmond gehört, ist man jetzt vielleicht dabei, mit Windows Phone 7 wieder einen späten Durchstarter zu launchen. Ob XBOX oder grafische Benutzeroberflächen – sprich Windows: Microsoft ist zuzutrauen, auch hier sehr spät aufzuwachen und dann in der Oberliga mitzuspielen. Bleibt Blackberry/RIM: Bisher durch die Pushtechnologie mit einem gerade in der Geschäftswelt durchschlagenden Alleinstellungsmerkmal versehen, muss man sich sputen. Auch wenn die ersten Blackberrys mit MultiTouch angeboten werden, kann sich der hohe Marktanteil gerade im Businessbereich doch deutlich zugunsten der anderen Anbieter abschwächen. Bei den Smartphones-Betriebssystemen erwartet Gartner, dass bis 2012 Android beim Marktanteil vor Apple und deutlich vor Windows Mobile und Blackberry liegt. Und Gartner legt noch nach: Hier wird für den weltweiten Tablet-Markt für 2011 ein Wachstum von 181 % vorhergesagt, was einem Absatz von fast 55 Millionen Geräten entsprechen würde. Stehen wir also weiter vor der Frage: Auf welches Pferd werden wir setzen? Oder auf alle gleich?

Was bleibt und was könnte sich ändern: Marketing

Die Verschiebung der Marketingbudgets von Print und teilweise TV auf Online-Marketing ist im vollen Gang. Egal, ob „klassisches SEO“, Youtube oder Social-Media-Einsatz, es ist Bewegung im Markt. Wird diese anhalten? Oder kommt es zu einem Durchzug zu neuen Marketingformen? Erfahrungen mit iAD konnten wir noch nicht sammeln. Dazu hat uns ein Teil der einen Million US-Dollar gefehlt, den man für das Einsteigerpaket hätte zahlen sollen, auch wenn (Apple Pressemitteilung vom 7. Juni diesen Jahres) ganz unbescheiden behauptet wird: „iADs kombinieren die Emotion von TV-Werbung mit der Interaktivität von Internetwerbung und eröffnen Werbetreibenden einen dynamischen und leistungsfähigen neuen Weg, Bewegung und Emotionen zum mobilen Nutzer zu bringen.“  Dass mit prognostizierten mehr als 50 % des gesamten mobilen Online-Marketing-Etats in den USA damit ein ganz großes Kuchenstück abgeschnitten werden soll, ist naheliegend. Können Online-Marketiers, die sich vom E-Mail-Marketing über RSS-Feeds zu SEO/SEM und zu Social-Media-Marketing weiterentwickelt haben, jetzt einfach noch (zusätzlich) auf den In-Apps-Marketing-Zug aufspringen? Werden wir also unsere Schlagworte auf der Titelseite „SEO/SEM/E-Commerce/Usability/Szene/Tipps & Tools“ ergänzen oder verändern müssen? Usability und E-Commerce werden bleiben – das ist so sicher wie die Rente. Szene und Tipps & Tools stimmt auch immer. Aber SEO und SEM? Brauchen wir AMO als „In-App-Marketing-Optimierung“?

Und was nun wirklich?

Den Faktencheck können wir wahrscheinlich erst in fünf Jahren durchführen. Klar ist, dass 2010 richtig Bewegung in den Markt gekommen ist und das diese Bewegung Auswirkungen auf „Boosting“ haben wird. Welche genau? Wenn wir es sicher wüssten, würden wir es hier schreiben. Was wir vermuten, haben Sie gelesen.

Es bleibt an Ihnen: Diskutieren Sie mit – ganz konventionell in unserem Blog zu folgenden Fragen:

  • Werden sich die Marketingbudgets vom Web in Apps verlagern? Ständige Penetration eines Unternehmens mit wechselnden Inhalten in einer vom User häufig genutzten Standard-App klingt ja extrem reizvoll …
  • Auf welches Pferd setzen Sie? Auf Apple als aktuellen Marktführer – mit einem eher diktatorischen Geschäftsmodell? Oder auf die „offeneren“ Systeme wie Android, Microsoft und Blackberry?
  • Werden Tablets eigene Werbeformen und Marketingansätze hervorbringen? Wird diese Geräteklasse zur „BILD“-Hardware aller Generationen?