Der Köder soll dem Fisch schmecken und nicht dem Angler!

Karin Lindemann
Karin Lindemann

Karen Lindemann ist Psychologin und Werbekauffrau – sie war mehrere Jahre in einer Werbeagentur als Texterin und Konzeptionerin tätig. Seit 2001 hat sie sich auf das Gebiet Usability spezialisiert, in 2005 gründete sie die User Experience Consulting Agentur NetFlow. Sie berät namhafte Unternehmen, wie diese ihre Websites, Produkte oder Services mit Blick auf die Nutzer optimieren können, um so erfolgreicher am Markt zu sein. Neben den bekannten User Centered Design Methoden wie Usability-Test, Rapid Prototyping, Experten-Gutachten, Cardsorting und

Mehr von diesem AutorArtikel als PDF laden

Websites werden häufig aus der Perspektive der Betreiber entwickelt – wen wundert es da, wenn sich Nutzer mit ihren Zielen auf Websites nicht wiederfinden. Für Unternehmen kann dies dramatisch sein. Besucher verlassen ohne Konversion die Website und haben auch nicht die Absicht wiederzukommen. Wenn Sie wissen wollen, wie Ihre Nutzer ticken, dann sollten Sie sich mit dem mentalen Modell Ihrer Nutzer auseinandersetzen.

Wer kennt das nicht: Eigentlich soll es nur ein Online-Ticket sein, doch manche Website macht diesen an sich einfachen Vorgang zu einem Spießrutenlaufen. Am Ende ist man genervt, frustriert und hat im besten Fall sein Ziel erreicht und hält ein Ticket in den Händen. Dass dies kein Vergnügen macht und auch nicht zum Wiederkommen anregt, ist leicht nachvollziehbar. Beim nächsten Mal geht es auf eine andere Website, auf der man sich schneller zurechtfindet und die den eigenen Erwartungen entspricht.

Doch was hat die eine Website, was die andere nicht hat? Häufig liegt es daran, dass die Betreiber und die Designer nicht wissen, was die Zielgruppe erwartet, d. h. das mentale Modell ihrer Kernzielgruppe nicht kennen. Die Inhalte der Website werden so strukturiert und dargestellt, wie es dem mentalen Modell der Betreiber entspricht: Es wird die Unternehmenssicht nach außen „transportiert“. Unter anderem werden die Produkte so gruppiert, wie es der Organisation des Einkaufs entspricht. Die Begriffe der Navigation sind dem Unternehmensvokabular entliehen und die Inhalte werden so dargestellt, als hätte der Leser alle Zeit der Welt, die Texte im Detail durchzulesen.

Die Nutzer haben immer ein Ziel

Im tatsächlichen Leben kommt der Nutzer jedoch mit einem klaren Ziel auf die Website, sucht nach einem speziellen Produkt bzw. einer Information und/oder möchte eventuell eine bestimmte Transaktion durchführen. Er sucht nach gewissen Schlüsselworten, hat ganz genaue Erwartungen aufgrund der Erfahrung mit anderen Websites und möchte möglichst schnell und reibungslos sein Ziel erreichen. Dass manche Besucher gelegentlich ihre Ziele ändern und sich zum Stöbern anregen lassen, liegt in der Natur des Internets – und kann und soll auch angeboten werden. 

Generell jedoch verfolgt der Nutzer immer ein Ziel auf einer Website, ob bewusst oder unbewusst. Er gibt einen Suchbegriff in die Suchmaschine ein oder kommt durch einen Link auf eine neue Website – sei es nun die Homepage oder eine andere Landingpage. Hier vergewissert er sich zuerst, ob er richtig ist: Geht es um das Thema, nach dem er gesucht hat? Ist die Website optisch ansprechend? Kann er davon ausgehen, dass er sich hier leicht zurechtfindet? Dies sind einige der Fragen, die sich der Nutzer beim ersten Kontakt mit einer Website stellt. Genau wie auch bei der ersten Begegnung mit einem Menschen, kommt dem ersten Eindruck ein besonderes Gewicht zu und entscheidet über Bleiben oder Gehen.

Der erste Eindruck ist entscheidend

Kanadische Wissenschaftler fanden in einer Studie heraus, dass bereits die ersten 50 Millisekunden entscheiden, ob einem Nutzer eine Website gefällt oder nicht. Bedenkt man, dass ein Lidschlag zwischen circa 300 und 400 Millisekunden andauert, so wird einem bewusst, wie unglaublich kurz dieser Moment ist. Weiterhin wurde festgestellt, dass dieser erste Eindruck analog zum Kennenlernen eines anderen Menschen ebenso nachhaltig ist. Der sogenannte Halo-Effekt tritt auf, d. h. die erste Bewertung „überstrahlt“ alle weiteren Eindrücke. Aus diesem Grund ist es so überaus wichtig, dass man möglichst alles richtig macht – wie eben auch beim ersten Date.

Das bedeutet in erster Linie: Ich muss mein Gegenüber besser kennenlernen, wissen, wie er tickt. Sympathie und Akzeptanz entstehen dann, wenn etwas ähnlich ist, wir einen Bezug dazu haben, wenn unser mentales Modell an Bekanntes anknüpfen kann. Daher ist es so entscheidend, dass Sie das mentale Modell Ihrer Nutzer kennen. Die Methoden des User Centered Designs setzen genau hier an. Wie schon der Begriff andeutet, wird der Nutzer während des gesamten Designprozesses, angefangen bei der Konzeption eines Produktes bis hin zur Implementation, in den Mittelpunkt gestellt. Je nach Fragestellung, Projektphase und Restriktionen wie Budget und Zeit bietet sich der Einsatz unterschiedlicher Methoden an.

Sehen Sie Ihren Nutzern beim Surfen zu

Wenn Sie erfahren möchten, wie Nutzer Ihre Website nutzen, dann sollten Sie einen Usability-Test in Auftrag geben. Repräsentative Nutzer werden in ein Usability-Labor eingeladen und gebeten, typische Aufgaben auf einer Website durchzuführen. Dabei werden die Nutzer aufgefordert, laut zu denken, d. h. alles auszusprechen, was sie fühlen und denken – dies wird auch Thinking Aloud Protocol genannt. Der Usability-Test wird von einem Testleiter moderiert und erfolgt in Form von Einzelinterviews. Optimal ist es, wenn die Verantwortlichen auf Unternehmensseite sowie auch von der Internagentur den Test live mitverfolgen. Mit einer speziellen Software werden sämtliche Bildschirmaktivitäten sowie Bild und Ton der Testperson aufgenommen. Im Anschluss können aufgrund einer detaillierten Analyse die Erwartungen sowie auch die Bedürfnisse der Nutzer in Bezug auf die Website identifiziert werden. Unter Berücksichtigung der Businessziele des jeweiligen Unternehmens werden Optimierungsvorschläge erstellt, die umgesetzt zu zufriedeneren Nutzern und einer Steigerung der relevanten Kennzahlen führen.

Listening Lab – eine andere Form des Usability-Tests

Der Usability-Test eignet sich gut, um Schwachstellen bei der Nutzung der Website zu identifizieren und die Ursachen hierfür zu verstehen, er zeigt jedoch nicht, wie sich Nutzer tatsächlich – im „normalen Leben“ – im Web bewegen. Der Test findet in einer Laborsituation statt und den Testteilnehmern werden vordefinierte Aufgaben gegeben, mit denen sie direkt auf die zu untersuchende Website „geschickt“ werden. Um ein realistischeres Bild der Nutzung von Websites zu erhalten, hat die New Yorker Designagentur Creative Good die Methode des Listening Labs entwickelt.

Der wesentliche Unterschied zum Usability-Test besteht darin, dass die Testteilnehmer keine Aufgaben erhalten. Wie schon der Name sagt, geht es hier in erster Linie ums Listening – Zuhören. In einem explorativen Interview, das vor dem eigentlichen Test stattfindet, werden die Testteilnehmer zu ihren Erfahrungen, Bedürfnissen, Gedanken und Gefühlen rund um das zu untersuchende Thema befragt. Anschließend werden sie aufgefordert, sich im Internet umzuschauen und so vorzugehen, wie sie es normalerweise auch tun würden.  

Fingerspitzengefühl ist gefragt

Der Moderator beobachtet die Testpersonen beim Surfen und stellt die eine oder andere Frage. Subtil lenkt er die Testpersonen auf die Websites, die für das jeweilige Projekt im Fokus stehen – das ist selbstverständlich die Website des Auftraggebers sowie aber auch die der relevanten Wettbewerber. Wichtig ist, dass die Tests von einem erfahrenen Experten moderiert werden. Eine entspannte und vertrauensvolle Atmosphäre ist Voraussetzung dafür, dass die Testteilnehmer locker und ohne Angst, etwas falsch zu machen, zwanglos im Internet surfen. Gleichzeitig müssen die Fragen so formuliert sein, dass sie die Teilnehmer nicht in ihren Antworten beeinflussen.

Die Ergebnisse, die aus einer derartigen Untersuchung generiert werden, sind reichhaltig und liefern Erkenntnisse, die über den üblichen Usability-Test hinausgehen. Ein Vorteil besteht unter anderem darin, dass die Testteilnehmer die Website des Auftraggebers unvoreingenommen beurteilen, da sie nicht wissen, welche Website im Fokus der Studie steht. Gleichzeitig gehen die Testteilnehmer bei der Suche im Internet intrinsisch vor, d. h. sie suchen nach Informationen oder führen Interaktionen durch, die durch die eigene Motivation inspiriert sind. Hierdurch erhält man Einsichten, die zum Teil sehr überraschend sind und auf die man von selbst nicht gekommen wäre.

Nicht Meinung, sondern Verhalten interessiert

Beim Listening Lab geht es, wie auch beim Usability-Test, in erster Linie um das Verhalten der Testpersonen. Es interessiert weniger, was eine Testperson für eine Einstellung oder Meinung über eine bestimmte Website hat, sondern es ist entscheidend, wie sie sich darauf verhält und ob sie zu ihrem Ziel gelangt. Häufig erzählen Menschen, was ihnen alles gefallen hat und was sie sich wünschen würden. Kommt dann aber der Moment der Entscheidung, dann verhalten sie sich meistens ganz anders. Hierzu sei am Rande ein Experiment erwähnt, bei dem die Teilnehmer einer Fokusgruppe unter anderem gefragt wurden, welche Farbe sie für eine Spielkonsole bevorzugen würden. Einige Teilnehmer stimmten für Gelb, andere für Schwarz. Beim Hinausgehen durften sich die Teilnehmer jeweils eine Konsole als Geschenk mitnehmen. Auf der einen Seite der Tür befand sich ein Stapel mit schwarzen Geräten, auf der anderen Seite ein Stapel mit gelben. Was meinen Sie, von welchem Stapel die meisten Konsolen genommen wurden? Vom Stapel mit den schwarzen Konsolen – kein einziger Teilnehmer entschied sich für ein gelbes Gerät.

Auf welche Art Sie die Methode des Listening Labs einsetzen können, welche Resultate Sie erhalten und wie Sie diese umsetzen können, erfahren Sie anhand der nachfolgenden Casestudy.

Redesign der Website www.remifemin.de

Für den Marktführer im Bereich apothekenpflichtiger Arzneimittel in der Indikation Wechseljahresbeschwerden sollte ein neuer Webauftritt entwickelt werden. Dabei war zu berücksichtigen, dass dem Internet bei der Informationsbeschaffung zu gesundheitlichen Themen, insbesondere in einem tabuisierten Bereich, eine wichtige Bedeutung zukommt. Die Interaktivagentur white-x hatte bereits einige Vorschläge erarbeitet – man stellte sich eine Website in der Anmutung einer Wellness-Oase vor. Doch um sicherzugehen, dass man auf dem richtigen Weg ist, entschlossen sich Unternehmen und Internetagentur eine Usability-Studie durchführen zu lassen. Die User Experience Consulting Agentur NetFlow wurde mit dem Auftrag betraut und empfahl den Einsatz eines Listening Labs.

Der Test wurde mit acht Teilnehmerinnen der Zielgruppe durchgeführt. Zu Anfang wurde über den beruflichen Hintergrund sowie die Art der Internetnutzung gesprochen. Anschließend ging es um das eigentliche Thema der Untersuchung – die Wechseljahre. Die Frauen wurden befragt, inwiefern sie sich schon mit dem Thema auseinandergesetzt hätten, ob sie sich im Internet dazu bereits schlaugemacht hätten und ob es noch Dinge gäbe, die sie gerne wüssten. Mit der Aufforderung „Dann sehen Sie sich doch mal hierzu im Internet um!“ wurden die Teilnehmerinnen ins Web geschickt. Es war ihnen überlassen, mit welchem Browser sie ins Internet gingen und mit welchen Suchbegriffen sie nach den gewünschten Informationen suchten. Und hier stellten sich auch schon die ersten interessanten Beobachtungen ein: Welche Einträge auf der Suchmaschinen-Ergebnisseite regen zum Klicken an, welche werden übersprungen und welche werden erst gar nicht gefunden? Der Test wurde von Auftraggeber sowie der Agentur live aus einem Beobachtungsraum mitverfolgt und das Erstaunen und zum Teil eine gewisse Ungläubigkeit waren nicht zu verkennen – aber das ist die Realität, so gehen Nutzer der Zielgruppe im Web vor und das ist meistens eben ganz anders, als wir es uns vorstellen.

Bei Besuch der einzelnen Websites wurde jeweils nach dem ersten Eindruck gefragt und es wurde beobachtet, wie und nach welchen Informationen auf den einzelnen Seiten gesucht wurde. Sehr aufschlussreich war auch, welche Art von Texten – inhaltlich sowie vom Schreibstil her, aber auch hinsichtlich der formalen Gestaltung – die Teilnehmerinnen am meisten ansprachen. Weiterhin stellte sich heraus, dass die zu dem Zeitpunkt aktuelle Website www.remifemin.de im Vergleich zu den Wettbewerbsites sehr gut abschnitt.

Wer das mentale Modell seiner Zielgruppe kennt, ist klar im Vorteil

Im Gespräch zwischen Unternehmen, Internetagentur und NetFlow wurden die gemeinsamen Beobachtungen diskutiert und es stellte sich heraus: Wir müssen beim Redesign in eine andere Richtung gehen. Die betroffenen Frauen wollten keine Wellness-Oase – wie vor dem Test angedacht –, sondern sie wollten konkrete Antworten auf ihre Fragen und das auf eine „normale“ und unprätentiöse Art. Überraschend war unter anderem auch, dass fast alle Teilnehmerinnen den meist unbeliebten Beipackzettel hilfreich fanden: „Das finde ich richtig gut, den würde ich ausdrucken und zum Arztbesuch mitnehmen.“

Konzept aus der Psychologie: Der Begriff des mentalen Modells wurde 1943 vom schottischen Psychologen und Philosophen Kenneth Craik geprägt. Er beschrieb es als ein verkleinertes Modell der Wirklichkeit, das Menschen nutzen, um Aktionen zu antizipieren. Der Psychologe Walter Edelmann beschreibt in seinem Buch über Lernpsychologie, dass mentale Modelle häufig nach der unmittelbaren Erfahrung mit einem Sachverhalt ausgebildet oder auch transformiert werden. Der Artikel nimmt Bezug auf diese Verwendung des Begriffs „mentales Modell“.

Bezeichnung einer Methode aus dem User Centered Design: Indi Young, eine der Gründerinnen der Designagentur Adaptive Path, hat eine Methode entwickelt, die sie Mental Model nennt. Auf Grundlage ethnographischer Interviews werden Verhalten, Emotionen und Philosophien der Interviewteilnehmer in Form eines Diagramms visualisiert und dem Angebot des Unternehmens gegenübergestellt. Hierdurch können Chancen für neue Produkte bzw. Services aufgedeckt werden. 2008 hat Indi Young ihr gleichnamiges Buch im Rosenfeld-Media-Verlag veröffentlicht, in dem sie die Vorgehensweise sowie auch die Vorteile dieser Methode genau beschreibt.

Quelle: „Mental Models: Aligning Design Strategy with Human Behavior“ von Indi Young, erschienen 2008 im Rosenfeld-Media-Verlag.

Der Test führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem mentalen Modell und dem Verhalten der Zielgruppe. So wurden bei der neuen Website zum Beispiel die Themenbereiche, für die sich die Testteilnehmerinnen zentral interessierten, als Menüpunkte in die Hauptnavigation übernommen. Bei der Formulierung der Kategorien wurde die Ausdruckweise der Nutzerinnen beachtet. Die Texte wurden übersichtlich gestaltet und größtenteils mit Zwischenüberschriften versehen, sodass ein schnelles Abscannen nach interessanten Schlüsselwörtern – die mithilfe des Tests identifiziert wurden – möglich wurde. Der Beipackzettel für die Produkte steht in insgesamt vier Sprachen, Deutsch, Englisch, Russisch und Türkisch, zur Verfügung und ist als PDF einfach ausdruckbar. Auch beim gesamten Look and Feel der Website ließ sich die Internetagentur von den Äußerungen der Nutzerinnen inspirieren. Durch die präzisen Hinweise aus der Analyse des Tests war es der Internetagentur insgesamt möglich, die neue Website zielgerichtet zu entwickeln.

Der Geschäftsführer der Interaktivagentur white-x für Medical Marketing (www.white-cross.de/blog), Henning Lorenz, kommentierte den Einsatz des Listening Labs so: „Ein Test schien uns die einzige Möglichkeit zu sein, uns den Nutzergewohnheiten und Anforderungen von Frauen an eine Wechseljahres-Website zu nähern. Die Ergebnisse überraschten uns in vielfacher Weise. So konnten wir viele wichtige Hinweise erhalten, die den neuen Auftritt in Form und Inhalt maßgeblich beeinflusst haben. Indiz, dass die neue Website bei der Zielgruppe gut ankommt, ist die signifikante Erhöhung der Verweildauer pro Session. Eine Bestätigung für uns, dass sich die Nutzerinnen auf der Website ‚zu Hause’ fühlen.“